Von
Errol Babacan und Murat Çakır*
Die Organisation
Amnesty International erhebt den Vorwurf schwerer Kriegsverbrechen gegenüber
der Autonomieverwaltung in Rojava. Die USA und ihre Verbündeten im Syrien-Krieg
werden aufgefordert, Konsequenzen zu ergreifen. Der Vorwurf kommt zu einem
Zeitpunkt, in dem die Konfrontation zwischen den regionalen und globalen
Kräften auf syrischem Territorium eine weitere Wende erfahren hat, die Rojava
zu grundlegenden Entscheidungen nötigen könnte.
Nach dem Kampf um Kobanê gab es einen deutlichen Aufschwung internationaler Solidarität für das nordsyrische Autonomiegebiet Rojava. Inmitten ethnisch und konfessionell aufgeladener Kriege im Nahen Osten barg Rojava ein Gleichheitsversprechen, für das es sich lohnte, einzutreten.
Die Organisation
Amnesty International (Amnesty) erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die von der
Partei der Demokratischen Union (PYD) geführte Autonomieverwaltung. Sie
missachte das Völkerrecht in einer Weise, die Kriegsverbrechen gleichkomme. Die
Volksverteidigungseinheiten (YPG/YPJ) sollen Dörfer niedergerissen, arabische
und turkmenische aber auch kurdische Einwohner willkürlich vertrieben und sogar
mit Exekutionen gedroht haben.
Der Bericht
erscheint zu einem Zeitpunkt, in dem der Bürgerkrieg durch die direkte
militärische Intervention Russlands zugunsten der syrischen Regierung eine
weitere Wende erfahren hat. Russlands Intervention verschärft die Konkurrenz mit
der von den USA angeführten internationalen Allianz über die Bestimmung der
Zukunft Syriens. Sie verschärft auch die Konkurrenz über die Bestimmung der
Zukunft Rojavas, dessen Status prekär ist.
Möglicherweise an
einem politischen Wendepunkt angekommen, konterkariert der Bericht nun die
politisch-ethische Grundlage der internationalen Solidarität. Er sorgt für Irritationen
und kann die Handlungsoptionen Rojavas bei der Bestimmung seiner Zukunft verringern.
Umso dringlicher ist es, diesen Bericht, in dem die USA und ihre Verbündeten zu
Maßnahmen gegenüber Rojava aufgefordert werden, vor dem Hintergrund der
aktuellen Situation zu prüfen.
Antwort
auf Amnestys Vorwürfe
Rojava besteht aus
einem schmalen Landstreifen im Norden Syriens, der etwa drei Millionen Menschen
beherbergt. Davon sind etwa die Hälfte Bürgerkriegsflüchtlinge. Ihre Versorgung
wird weitgehend abgeschnitten von der restlichen Welt aus eigener Kraft mit äußerst
knappen Mitteln geleistet. Internationale Hilfen sind spärlich. Sie werden hauptsächlich
von humanistischen und linken Privatinitiativen, die materielle Hilfen und
Delegationen schicken, von Einzelpersonen, die sich den Verteidigungskräften
anschließen, sowie einer Handvoll professioneller Hilfsorganisationen geleistet.
Das Embargo von Seiten der türkischen Regierung und immer wieder auch der
Autonomieverwaltung des irakischen Kurdistan erschweren oder verunmöglichen
diese Hilfen weiterhin.
Dass Rojava überhaupt
zu einem Anziehungspunkt für internationalistische Solidarität geworden ist,
steht in Verbindung mit seiner politischen und sozialen Ausrichtung. Inmitten
des Bürgerkriegs wurden unter Führung der PYD in drei Kantonen
Verwaltungseinheiten aufgebaut, die ihre Autonomie vom syrischen Staat erklärt
haben. Die syrische Regierung akzeptierte diese Deklaration, da sie keine
weiteren Fronten aufmachen wollte und die Autonomie in Rojava als die geringste
Gefahr für ihre eigene Zukunft ansah. Die PYD entschied sich für eine Art
„Nichtangriffspakt“ mit der Regierung, da sie international isoliert und von
nahezu allen anderen oppositionellen Kräften angefeindet wurde.
In dieser
spezifischen Konfliktlage konnte die PYD sich auf den Aufbau autonomer
Verwaltungsstrukturen konzentrieren. Die Strukturen sind ebenso wie die
Selbstverteidigungskräfte charakterisiert durch Geschlechterquoten und
Repräsentation von Bevölkerungsgruppen entlang ethnischer beziehungsweise
religiöser Zugehörigkeit. Dorf-, Stadtteil-, Stadt- und Regionalräte sollen
eine hohe Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsfindungen ermöglichen. Preiskontrollen,
rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit und kostenlose Schulbildung in verschiedenen
Sprachen sind weitere Kennzeichen des für das Autonomiegebiet erarbeiteten
Sozialpakts. Unter äußerst widrigen Bedingungen wurde dazu übergegangen, die
Versorgung der Bevölkerung auf der Grundlage von Produktionsgenossenschaften zu
organisieren.
Der Bericht von Amnesty
stellt die Praxis der Autonomieverwaltung nun grundlegend in Frage. Laut Bericht
wurden Kriegsverbrechen begangen, die aus gezielten Racheakten an Dorfbewohnern
bestehen, die der Sympathie oder Verbindung mit dem Islamischen Staat (IS)
verdächtigt wurden. Nach eigenen Angaben besuchte Amnesty 14 Dörfer mit
Billigung und unter dem Schutz der Autonomieverwaltung.
Die Verbrechen
sollen vor allem geschehen sein, als die YPG/YPJ im vergangenen Sommer ein
bislang vom IS gehaltenes Gebiet zwischen den Kantonen Kobanê und Cizîrê
freikämpfte. Untersucht worden sei auch eine weitere Region, die strategische
Bedeutung als Verbindungsroute zwischen den vom IS kontrollierten Gebieten in
Syrien und im Irak hatte. Das Gebiet wurde nach schweren Gefechten im Februar
2015 von den YPG/YPJ eingenommen.
Bereits im
September legte Amnesty einen Bericht über die Gefängnisse
in Rojava vor. Der Autonomieverwaltung wurden auf der Grundlage von Interviews
mit Häftlingen, die Amnesty ungehindert führen konnte, willkürliche
Verhaftungen, Misshandlungen und unfaire Gerichtsverfahren vorgeworfen. Dabei
sollen sich nach Angaben der Autonomieverwaltung bei einer Bevölkerung von etwa
drei Millionen insgesamt 400 Häftlinge in Gefängnissen befunden haben. Beweise
für Folter gab es keine. Einzelne Aussagen reichten Amnesty aus, um
generalisierende Vorwürfe zu erheben.
So auch im neuen
Bericht. Er stützt sich auf Zeugenaussagen, die durch Satellitenbilder und
Fotos erhärtet werden sollen. In einem speziellen Fall sollen die Bilder belegen,
dass von 225 im Juni 2014 zu erkennenden Gebäuden eines Dorfes ein Jahr später
nur noch 14 erhalten waren. Nach Aussagen von Bewohnern sollen die Gebäude von
der YPG/YPJ zerstört worden sein. Allerdings zeigen die Bilder nicht, wie, von
wem und wann genau die Häuser zerstört wurden. Andere Beweise für die
weitgehenden Vorwürfe an die YPG/YPJ, sie hätten in einem Fall sogar damit
gedroht, Bewohner bei lebendigem Leib zu verbrennen, wenn sie ihr Haus nicht
verließen, werden nicht vorgelegt. Auch die Asayish, die Polizeikräfte Rojavas,
sollen an Vertreibungen beteiligt gewesen sein, die Amnesty als koordinierte
Kampagne zur Kollektivbestrafung kennzeichnet.
In dem Bericht
kommen die Asayish und die YPG/YPJ, die auch eine gesonderte Stellungnahme
veröffentlicht haben, ebenfalls zu Wort. Sie geben an, dass sie bei Vorliegen
von Informationen über Kollaborationen der Bewohner mit dem IS diese durchaus
zum Verlassen ihrer Häuser aufforderten. Sie begründen solche und andere
Evakuierungen mit Kampfhandlungen und Sicherheitsvorkehrungen, bestreiten
jedoch, gezielt Häuser oder sogar ganze Dörfer zerstört zu haben, nur weil die
Bewohner ihnen nicht wohlgesonnen waren.
Fassen wir die
Situation zusammen. Rojava befindet sich in einer Kriegssituation,
Bombenanschläge stehen permanent auf der Tagesordnung, ganze
Bevölkerungsgruppen stehen unter der Bedrohung, eliminiert zu werden. Kampfhandlungen
können dazu führen, dass ganze Regionen evakuiert werden müssen. Auch
bei dem Kampf um Kobanê hatten die Verteidigungseinheiten Hunderte Dörfer so
wie auch die Stadt Kobanê weitgehend evakuiert, um sich und die Bewohner gegen
den anrückenden IS besser verteidigen und schützen zu können. Daneben sind die Verwaltungsstrukturen sicherlich nicht
ausgereift. Es ist nicht nur möglich, sondern sehr wahrscheinlich, dass in
einer solchen Situation auch durch die YPG/YPJ Rechte Einzelner verletzt
werden, gegen deren Willen gehandelt wird, so wie es auch sonst zu
Rechtsbrüchen kommen kann.
Sicherlich müssen
alle diesbezüglichen Aussagen ernst genommen werden. Doch Amnesty erhebt die
Aussagen ihrer Interviewpartner zu Tatsachen mit generalisierenden
Implikationen, während sie die Aussagen der YPG/YPJ offenbar nur pro forma in
den Bericht aufgenommen hat. Denn in der abschließenden Gewichtung kommen sie
nicht mehr zum Tragen. Einseitig und ohne weitere Möglichkeit der Prüfung spricht
Amnesty von koordinierten Vertreibungskampagnen und gelangt zu dem Vorwurf
eines grausamen, rücksichtslosen und systematischen Kriegsverbrechens.
“In
its fight against IS, the Autonomous Administration appears to be trampling all
over the rights of civilians who are caught in the middle. We saw extensive
displacement and destruction that did not occur as a result of fighting. This
report uncovers clear evidence of a deliberate, co-ordinated campaign of
collective punishment of civilians in villages previously captured by IS, or
where a small minority were suspected of supporting the group.”
Schließlich mündet der
Bericht in der Aufforderung an
“all
states supporting the Autonomous Administration or co-ordinating with it in
military operations, such as those that form part of the US-led coalition
fighting IS in Syria, to: Publicly condemn unlawful demolitions and forced
displacement practices that violate international humanitarian law; take urgent
measures to ensure that the provision of military assistance, including
military co-ordination with, the Autonomous Administration is not being misused
to commit violations of international humanitarian law, including unlawful
house demolitions and forced displacement.”
Der Bericht
appelliert also direkt an die „US-led coalition“ Konsequenzen zu ergreifen. Bevor
nun auf diese Forderung eingegangen wird und eine abschließende Bewertung des
Berichts erfolgt, ist es notwendig, sich die aktuelle Lage Rojavas im syrischen
Bürgerkrieg vor Augen zu führen. Hierfür ist es wiederum auch vor dem
Hintergrund der jüngeren Intervention Russlands angebracht, eine Einschätzung der
Syrienpolitik der USA vorzunehmen. Schließlich führen die USA nicht nur die
genannte Koalition an und bilden so einen Hauptadressaten von Amnesty, sie sind
auch weiterhin der mächtigste, wenn auch ganz sicher nicht der einzig
bestimmende Akteur im Nahen Osten.
Das
globale Schlachtfeld Syrien
Man muss kein
Unterstützer der syrischen Regierung sein, um festzustellen, dass parallel zum sozialen
und demokratischen Aufstand in Syrien das Vorhaben eines regime change durch
die USA verfolgt wurde. Die demokratische Opposition ist zu einem sehr frühen
Zeitpunkt zwischen den Mühlen der syrischen Regierung und ihren vom Ausland
unterstützen Gegnern zerrieben worden. Das US-amerikanische Ziel des regime
changes besteht derweil bis heute fort. Ihre Aktivitäten richteten sich
zunächst auf den Aufbau einer Opposition im Ausland unter der Führung der
syrischen Muslimbruderschaft (Syrischer Nationalrat) und der Ausrüstung der
Freien Syrischen Armee (FSA). Unter dem Label „Freunde Syriens“
schmiedeten sie eine internationale „Anti-Assad Allianz“, deren Kern von
Mitgliedern der NATO und den Golfstaaten gebildet wird. Parallel zur Aufrüstung
der verbündeten Opposition haben die „Freunde Syriens“ ein UN-Mandat
angestrebt, um Syrien so wie Libyen von der Luft aus zu bombardieren.
Der Plan ging
nicht auf, da Russland und China mehrfach Veto im Sicherheitsrat einlegten. Für
Russland hat Syrien ebenso wie für die „Freunde Syriens“ eine strategische
Bedeutung. In Syrien befindet sich die einzige Militärbasis Russlands außerhalb
der ehemaligen Sowjetrepubliken, mit einem Zugang zum Mittelmeer. Diese
Militärbasis und daneben wohl auch Gasvorkommen im
Mittelmeer spielen eine Rolle bei ihrem Engagement.
Doch weit mehr als
solche konkreten Interessen steht die Frage im Raum, wer die Vorherrschaft über
die Grenzen, Märkte, Arbeitskräfte und natürlichen Ressourcen des Nahen Ostens ausübt.
In dieser Frage hat sich eine eindeutige Polarisierung herausgeschält. Russland
ist mit Syrien und Syrien wiederum mit der libanesischen Hisbollah und dem Iran
verbündet. Zusammen bilden sie in der Nahostregion ein Gegengewicht zu den hauptsächlichen
Verbündeten der NATO – Israel und die Golfstaaten. Der Irak ist dagegen
gespalten und bewegt sich zwischen den Polen.
Im Angesicht einer
Auflösung der Polarisierung zugunsten der NATO und einer Zurückdrängung Russlands
im Nahen Osten, folglich auch einer Verschiebung im globalen Kräfteverhältnis,
hat Russland eine internationale Intervention aus der Luft verhindern können.
Die indirekten Interventionen auf dem Boden konnte es dagegen nicht verhindern.
Trotz der
militärischen und finanziellen Fördermittel der „Freunde Syriens“ für ihre
Verbündeten konnte die syrische Regierung bis heute überdauern. Zum einen
erhält sie offensichtlich weiterhin Unterstützung von beträchtlichen Teilen der
Bevölkerung. Diese Tatsache ändert selbstverständlich nichts an einer anderen
Tatsache, dass die syrische Regierung nämlich eine Diktatur darstellt und einen
weitgehend friedlichen Aufstand mit massiver Gewalt niederschlug. Sie
widerspricht aber den Voraussagen eines schnell zu erwartenden Kollapses der
Regierung, da sie die übergroße Mehrheit der Bevölkerung gegen sich habe. Zum
anderen intervenierten die libanesische Hisbollah und der Iran und verhalfen so
zum Aufschub eines militärischen Zusammenbruchs der syrischen Regierung unter
dem Druck der einströmenden Dschihadisten aus aller Welt.
Das Aufkommen und
Erstarken der Dschihadisten erfolgte indes offenbar nicht unbedingt unter der
Kontrolle aber mit Duldung und Wohlwollen
aller „Freunde Syriens“ – sehr wohl auch der Westlichen -, deren verdeckte Waffenlieferungen ebenfalls
in die Hände von Dschihadisten gelangten. Nach einem bald fünfjährigen Krieg
gegen eine zermürbte syrische Armee befanden sich diese Dschihadisten, die das
oppositionelle Feld weitgehend dominieren, auf dem Vormarsch. Der direkte
Eintritt Russlands in das Kriegsgeschehen zugunsten der syrischen Regierung hat
den Kollaps nun neuerlich verhindert. Russlands Eintritt limitiert insgesamt
die Handlungsfreiheiten der „Anti-Assad Allianz“, da er sich gegen alle Gegner
der syrischen Regierung richtet. Darunter befinden sich der IS aber auch die Al-Nusra-Front
(Al-Kaida-Ableger in Syrien) sowie von den Golfstaaten und der Türkei direkt unterstützte
und von führenden US-Medien zeitweise
hofierte Gruppen mit islamistischer Agenda wie die Ahrar ash-Sham.
Mit Beginn der
russischen Bombardements erfuhr die Weltöffentlichkeit nebenbei, dass – nach
amerikanischen Medienberichten einige Tausend - von der CIA ausgerüstete
Kämpfer in Syrien agieren. Die CIA-liierten Kämpfer wurden von russischen
Kampffliegern in einem Gebiet
getroffen, in dem keine Kämpfe mit dem IS stattfanden. Folglich waren diese
Kämpfer gegen die syrische Regierung eingesetzt und nicht gegen den IS. Ein Tatbestand,
den die USA bisher für gewöhnlich abgestritten haben. Frühere Berichte über Waffenlieferungen
und Geheimprogramme des CIA wurden
somit bekräftigt. Als Reaktion auf die Intervention Russlands haben Saudi-Arabien und Katar derweil
angekündigt, die Unterstützung für ihre Verbündeten in Syrien auszubauen.
Rojava
zwischen den Fronten
Nun unterhält Russland
diplomatische Beziehungen zu Rojava, das wiederum eine andere Haltung gegenüber
Russland einnimmt als die USA und die diversen „Rebellengruppen“. Salih Muslim,
Co-Vorsitzender der PYD, begrüßte die russische Intervention. Zum einen werde die
Türkei dadurch weiter abgehalten, militärisch gegen Rojava vorzugehen. Zum
anderen hat Muslim wiederholt darauf hingewiesen, dass die PYD zwar für ein
demokratisches Syrien und den Abgang Bashar al-Assads eintritt. Der Sturz der
syrischen Regierung dürfe jedoch nicht durch Islamisten geschehen. Dies würde zu
einem viel größeren Desaster
führen, als ohnehin der Fall ist. Damit weicht die PYD in einem wichtigen Punkt
von der Grundlinie der „Anti-Assad Allianz“ ab. Letztere betreibt in erster
Linie den Sturz der syrischen Regierung, auch wenn es interne Differenzen bei
den favorisierten Akteuren gibt. Zur Erfüllung dieses Ziels wird auch auf Dschihadisten
gesetzt, ohne sich um die Zukunft der Bevölkerung, egal welchem Lager
zugehörig, zu scheren.
Die PYD versucht,
keine neuen Kriegsfronten aufzumachen. Die Dschihadisten bilden für sie die
vordringliche Gefahr. In der Region um die nordostsyrische Stadt Haseke kämpft
die YPG/YPJ mit der syrischen Armee gegen den IS. Zugleich kooperiert sie mit
den USA, denen sie bei der Bekämpfung des IS Koordinaten für ihre Luftangriffe
durchgibt.
Zwar hält auch die
Kooperation mit den USA die Türkei davon ab, direkt gegen Rojava vorzugehen. Eine
weitere Hoffnung, dass die USA Druck ausüben, die abgebrochenen Verhandlungen
mit der kurdischen Bewegung in der Türkei, die sehr eng mit Rojava assoziiert
ist, wieder aufzunehmen, hat sich jedoch nicht erfüllt. Im Gegenteil, das
einvernehmliche Schweigen des Westens bei der jüngsten Repressionswelle in der
Türkei und der Bombardierung von Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)
im Nord-Irak zeigen, dass zwischen der Kooperation mit Rojava und der
Kurdenpolitik der Türkei fein säuberlich getrennt wird.
Daneben haben die
USA der Türkei allem Anschein nach zugesagt, dass sie das Ansinnen Rojavas, den
westlichen Kanton Efrîn mit den beiden anderen zu verbinden, nicht unterstützen
werden. Der schmale Korridor um die Stadt Tel Abyad, der den östlichen Kanton Cizîrê
mit dem mittleren Kanton Kobanê verbindet, haben die YPG/YPJ erst im
vergangenen Sommer dem IS abgetrotzt. Der Korridor bildete einen Nachschubweg für
Waffen und andere Güter aus der Türkei und galt als Einfallstor für
ausländische Dschihadisten nach Syrien. Der westliche Kanton Efrîn ist jedoch weiterhin
von den beiden anderen Kantonen durch einen Abschnitt getrennt, der vom IS und
weiteren Gruppen gehalten wird, die von der Türkei unterstützt werden.
Die USA drängen Rojava
derzeit in eine andere Richtung. Sie wollen offenbar die Stadt Rakka - Hochburg
des IS in Syrien – von der YPG und anderen Gruppen durch eine Bodenoffensive einnehmen
lassen. Hierfür soll ein neues militärisches Bündnis (Syrian Democratic Forces) aus zehntausenden Kämpfern gebildet und bewaffnet worden sein. Für die YPG/YPJ
stellt die Beteiligung an einer solchen Operation auf nicht-kurdischem Gebiet allerdings
ein erhebliches Risiko dar. Sie muss hohe Verluste in einer Schlacht
befürchten, die nicht unmittelbar der Selbstverteidigung Rojavas dient, während
die arabische Bevölkerung sie möglicherweise als amerikanisch-kurdische
Invasionsmacht ansehen wird.
Neben diesen
Kalamitäten, in die die Kooperation mit den USA Rojava bringt, herrscht begründeter
Zweifel, dass die USA zu einem gegebenen Zeitpunkt für einen gesicherten
politischen Status Rojavas eintreten werden. Die militärische Kooperation mit
der YPG/YPJ ist den USA willkommen, eine politische Aufwertung Rojavas hat sie
bisher jedoch nicht unterstützt. Russland insistiert dagegen seit langem auf
einer Teilnahme der PYD als eigenständige Partei an internationalen
Verhandlungen über die Zukunft Syriens. Vor kurzem soll Moskau Rojava eine
ständige diplomatische Vertretung sowie ein Bündnis gegen den IS angeboten
haben. Von Russland könnte auch Druck auf Damaskus ausgehen, die de facto
Autonomie Rojavas in einen legalen Status innerhalb Syriens umzuwandeln. Die
von den USA aufgebaute syrische Opposition als auch ihre Partnerin Türkei haben
jegliche Aufwertung Rojavas seit jeher abgelehnt.
Internationale
Solidarität von neuem
Rojava befindet
sich also auch ein knappes Jahr nach dem Kampf um Kobanê in einer verzwickten
Lage. Der Krieg hat nicht an Intensität verloren. Militär-taktische und geo-strategische
Überlegungen bestimmen das Geschehen. Die PYD sieht sich gezwungen, zwischen
den Interessen von Mächten zu lavieren, deren militärische und finanzielle
Ressourcen weit überlegen sind. Auf diese Weise hofft sie - in Abwesenheit
emanzipatorischer Kräfte auf der internationalen Bühne - eine Balance aufrecht
zu erhalten, die ihr Spielräume erhält. Angesichts der Aufstellung der
Anti-Assad Allianz und der katastrophischen Nahostpolitik der USA ist es
nachvollziehbar, dass die PYD sich von einer Kooperation mit dieser Allianz nicht
abhängig machen will. Mögliche Annäherungen an Russland stehen auch unter
diesem Zeichen, ohne dass Rojava sich deswegen Russland oder der syrischen
Regierung an den Hals wirft.
Unüberbrückbare
Differenzen bei der Bestimmung von Prioritäten zwischen der USA und Rojava oder
eine weitere Eskalation des Bürgerkriegs, nicht auszuschließen auch eine
direkte Konfrontation zwischen den USA und Russland, könnten allerdings eine
Entscheidung Rojavas für die eine oder andere Seite erzwingen. Es ist angesichts
der jüngeren Konfrontationen zwischen westlichen Staaten und Russland und der
fabrizierten anti-russischen Stimmung absehbar, dass eine Annäherung Rojavas an
Russland die Sympathien im Westen stark schmälern würden, auch ohne dass sich
am sozialen und politischen Charakter des Projekts etwas veränderte.
Vor diesem
Hintergrund ist der Bericht von Amnesty besonders kritisch zu sehen. Eine kaum
belastbare Recherche dient als Grundlage, Rojava der Kriegsverbrechen zu
beschuldigen und Sanktionen von der „US-led coalition“ einzufordern. Führen wir
uns vor Augen, dass sich unter den adressierten Mitgliedern der Koalition Saudi-Arabien,
Katar, die Türkei und weitere Staaten befinden, die selbst nicht vor der
Unterstützung des IS oder anderer Dschihadisten und vor deren grausamen
Verbrechen zurückschrecken. Amnesty fordert diese Staaten, in denen mehr oder weniger
unterdrückerische Regime an der Macht sind, für die rechtsstaatliche und
demokratische Standards Fremdwörter bilden, auf, Maßnahmen gegenüber Rojava zu
ergreifen.
Zur adressierten Koalition
gehören auch westliche Staaten. Insbesondere die USA, deren kriegstreibende
Rolle offen zu Tage liegt und die völkerrechtswidrig in Syrien agieren, werden
von Amnesty zu Wächtern des Völkerrechts erkoren.
Wenn dies nicht
als schlechter Witz abgetan werden soll, kann es nur mit einer überheblichen
Gewissheit von Amnesty erklärt werden, auf der „richtigen“ Seite der Geschichte
zu stehen. Der Verdacht mancher Kommentatoren, die den Bericht politisch werten,
liegt ebenfalls nicht fern. Sie sehen ihn in direkter Verbindung mit der
US-Politik, Rojava zu disziplinieren und den Druck zu erhöhen, ihren
Prioritäten zu folgen. Rojava wird damit konfrontiert, wie schnell es
international diskreditiert werden kann.
Umso wichtiger ist
es für die internationalistische Linke, kritische Gegenöffentlichkeiten zu
bilden und sich die Tagesordnung nicht von den dominanten politischen Mächten
und Organisationen bestimmen zu lassen. In der gegebenen Lage und angesichts
der Schwäche der globalen Linken, Einfluss auf Regierungspolitiken zu nehmen,
sollte die Organisierung direkter Hilfen für die Bevölkerung Rojavas weiterhin
ein vordringliches Anliegen sein.
Dieser
Artikel ist stellvertretend für alle Genossen und Genossinnen, die
internationalistische Solidarität leisten, denjenigen gewidmet, die unter den
Augen des türkischen Staats in der Stadt Suruç, bei einem Treffen zur
Organisierung von Aufbauhilfe für Kobanê, durch den Bombenanschlag eines
IS-Sympathisanten ermordet worden sind.
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* Dieser Artikel blieb, trotzdem er in seiner Grundausrichtung von der gesamtem Redaktion für stichhaltig befunden wird, in einigen Formulierungen unter den Mitgliedern der Redaktion umstritten. Dies betraf z.B. die Formulierung "überhebliche Gewissheit" des AI-Berichtes. Umstritten blieb sowohl die mit den Formulierungen zum Ausdruck gebrachte politische Einschätzung der Verhältnisse, der Vorgehensweise und der genannten Institution als auch die Frage, welche Wirkung hiermit bei welchem Publikum erzielt werden könnte bzw. sollte.