Entgegen
der klassischen Erzählung, die die Verantwortung für den Genozid in der „Konstruktion
einer türkischen Identität“ sucht, muss gefragt werden, warum die besagte
Identität gerade in diesem historischen Moment so dominant geworden ist. Auf
die türkische und kurdische Linke kommt die Aufgabe zu, mit den Hauptverantwortlichen
für das barbarische Verbrechen abzurechnen. Die Komplizenschaft
des Deutschen Reichs macht es dagegen zur Aufgabe der deutschen Linken, Druck
auf ihre Regierung für die Öffnung der Archive und die Anerkennung auszuüben.
Dem Andenken an Stephan Shaumyan,
armenisch-bolschewistischer Anführer der Kommune von Baku und Hrant Dink,
armenisch-sozialistischer Intellektueller aus Istanbul, der bis zu seiner Ermordung
2007 eine Herkulesarbeit leistete, den Genozid ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit
in der Türkei zu rücken.
Am
24. April 1915 wurden hunderte armenische Intellektuelle, Politiker und
Gemeindeleiter in Istanbul (oder Konstantinopel, wie es damals im Westen
genannt wurde) vom osmanischen Staat festgenommen, um ins Exil geschickt zu
werden, von woher die meisten nie zurückkehrten. Dies wurde zum Fanal einer
Kette von Ereignissen, die in einer Tragödie seltenen Ausmaßes in der modernen
Geschichte kulminierte. Die Armenier, die seit uralten Zeiten im
ost-anatolischen Hochplateau lebten, wurden aus ihren Häusern in die syrische
Wüste nach Deir ez-Zor deportiert. Bis zu eineinhalb Millionen starben dabei.
Frauen wurden entführt, vergewaltigt und getötet. Kleine Kinder wurden in
Waisenhäuser verbracht und zwangsweise islamisiert. Das gesamte Eigentum der
Armenier, Häuser und Gärten, Bauernhöfe und Obsthaine, Kühe und Schafe,
Werkstätten und Werkzeuge, Handelshäuser und Fabriken wurden vom Staat beschlagnahmt
oder einfach von der herrschenden Schicht angeeignet. Kirchen wurden zu Lagerhäusern
gemacht oder dem Verfall überlassen, Krankenhäuser und Schulen der armenischen
Gemeinde entwendet.
Am
Vorabend des Ersten Weltkrieges lebten in Anatolien nach unterschiedlichen
Schätzungen und Zählungen zwischen 1,2 und 2 Millionen Armenier. Am Ende des
Krieges war einzig in Istanbul eine größere armenische Population geblieben –
die Gesamtzahl war unter 100,000 gefallen. Was zur heutigen Türkei werden
sollte, war von seiner armenischen Bevölkerung „gesäubert“ worden. Die Türken,
die in Folge des Sieges der Seldschuken über die Byzantiner im Jahr 1071 nach
Anatolien kamen, lebten mit den autochthonen Armeniern für beinahe ein
Jahrtausend zusammen. Das Osmanische Reich betrachtete die Armenier als „loyale
Nation“ und doch war es der gleiche Staat, der sie betrog, massakrierte, aus
ihren Häusern und ihrem Mutterland vertrieb.
Es
besteht keinerlei Zweifel an der Tatsache eines Genozids. Der türkische Staat und
jene Historiker und Intellektuelle, die als sein Sprachrohr fungieren, haben
beständig den Genozid verleugnet. Ihre Argumente reichen von der Minimierung
der Opferzahlen bis zur Behauptung, es habe auf beiden Seiten Massaker gegeben.
Sie vergessen zwei simple Fakten. Erstens, die armenische Bevölkerung wurde
fast vollständig aus Anatolien ausgerottet. Und so ist das Zählen der Toten nur
ein Teil der Genozid-Debatte. Zweitens, die Staatsmacht war in den Händen der
dominanten türkischen Nation. Dies macht jedes Gerede über gegenseitiges Leid
zu leerem Geschwätz.
Genozid als Klassenkampf
Die
klassische Erzählung, die uns für dieses barbarische Verbrechen von der
liberalen Geschichtsschreibung in der Türkei und der armenisch-nationalistischen
Geschichtsschreibung im heutigen Armenien und der Diaspora angeboten wird, ist,
dass es ein Ergebnis der „Konstruktion der türkischen Identität“ oder der
„unionistischen Mentalität“ gewesen sei. Letzteres meint die Geisteshaltung des
damals sich an der Regierung befindlichen jungtürkischen Komitees für Einheit
und Fortschritt, auch Unionisten genannt. Dies sind idealistische Zugänge. Denn
eigentlich müsste gefragt werden, warum die besagte Identität oder Mentalität
gerade in diesem historischen Moment so dominant geworden ist. Aber es geht
noch schlimmer. Unter Westlern, Armeniern und verwestlichten Türken ist die
Vorstellung sehr verbreitet, dem Muslim oder dem Türken oder beiden hafte aufgrund
der Natur ihrer Religion oder Ethnie irgendwie etwas Böses und Barbarisches an.
Diese Art der rassistischen Charakterisierung wird heute selten öffentlich
geäußert, findet sich aber immer noch in privaten Unterhaltungen.
Unser
Blick auf die Determinanten des Völkermords an den Armeniern unterscheidet sich
fundamental von dem fast aller Kommentatoren. Wir behaupten, es war ein
Klassenkampf auf verschiedenen Ebenen, der hinter dem Genozid lag. Die grausamen
Attacken gegen die Armenier hatten ihre frühesten Wurzeln in der Enteignung des
Mehrprodukts der armenischen Bauern durch die herrschenden Schichten der
kurdischen Stämme, die mit den Armeniern das gleiche Territorium teilten. Der
spätere aber stärkere und sehr viel radikalere Schub kam von der entstehenden
türkischen Bourgeoisie, die zur Jahrhundertwende gegen die ökonomische Dominanz
der nicht-muslimischen besitzenden Klassen innerhalb der osmanischen
Gesellschaft kämpfte. Diese Klassenfraktion wurde von den Unionisten
repräsentiert und sie enteignete die armenische und auf eine andere Art die
griechische Bevölkerung Anatoliens, um Kapital zu akkumulieren. So nahm die
ursprüngliche Akkumulation in den Händen der türkischen Bourgeoisie den Weg eines
Genozids an.
Die deutsche Komplizenschaft
Diese inneren Faktoren wurden verstärkt durch die
Unterstützung, die die türkische Bourgeoisie von der deutschen Bourgeoisie
erhielt, die das Osmanische Reich in der imperialistischen Konkurrenz zu
anderen Bourgeoisien Europas benutzte. Diese Tatsache ist von großer
Bedeutung. Deutschland war Verbündeter und Protektor des Osmanischen Reichs
während des Ersten Weltkriegs. Die Kommandierenden der osmanischen Armee waren
deutsche Feldmarschälle, Generäle und Admiräle. Es ist absolut unmöglich, dass
der Genozid ohne deutsches Einvernehmen stattgefunden hat.
Das
Deutsche Reich und der Kaiser waren bereits für den Genozid an den Herero in
Namibia, was sie damals Deutsch-Südwestafrika nannten, verantwortlich. Von den
Osmanen erwartete die Regierung des Kaisers, dass die Propagierung einer
pan-türkistischen und pan-islamistischen politischen Offensive Russland und
Großbritannien in ihren asiatischen Hinterhöfen bedrohen würde. Die Armenier standen
diesem Ziel im Wege. So diente der Völkermord an den Armeniern in einem
objektiven Sinn den Kriegszielen des deutschen Imperialismus. Sicherlich heißt
das nicht notwendigerweise, dass das Deutsche Reich als aktiver Helfer am
Genozid beteiligt war. Die Wahrheit in dieser Angelegenheit kann nur durch die
Öffnung der Archive inklusive der streng geheimen Dokumente aufgedeckt werden.
Anerkennung des Völkermords als
historische Tatsache
Worin
liegt die Bedeutung von alledem? Beginnen wir mit etwas Grundsätzlichem. Die Anerkennung
des Genozids als historische Tatsache ist ein erster Schritt, dem Leid des
armenischen Volkes ein wenig abzuhelfen und ein Mindestmaß an Fraternität und
Vertrauen zwischen den Völkern der Region wiederherzustellen.
Der
türkische Staat und seine Sprachrohre leugnen beharrlich den Genozid. Wenn wir
heute dennoch in der Lage sind, in der Türkei diese Frage offen zu diskutieren,
so geht das größtenteils auf die Herkulesarbeit des vom sogenannten „tiefen
Staat“ ermordeten Hrant Dink und seine weiterhin bestehende bilinguale Zeitung
Agos zurück. Allerdings kann nicht gesagt werden, dass sich die Gesamtsituation
unumkehrbar gewendet hätte. Der Genozid wird in den Medien noch immer als „der
so genannte Genozid“ bezeichnet.
An
dieser Stelle ist zu betonen, dass zahlreiche europäische Regierungen und
Parlamente die Ereignisse von 1915 als Genozid anerkennen und die Türkei dazu
aufgefordert haben, dies ebenfalls zu tun. Nicht so Deutschland, das sich in
dieser Frage sehr bedeckt hält. Die Komplizenschaft des Deutschen Reichs
verleiht diesem Akt seine besondere Note. Wenn Deutschland den Völkermord an
den Armeniern mit eigenen Dokumenten in der Hand anerkennt, würde die ganze
Frage aus der fatalen Polarisierung zwischen der Türkei und Armenien
herausgelöst und die obskuren türkischen Positionen zum Genozid einen schweren
Rückschlag erleiden.
Daher
ist es eine besondere Aufgabe deutscher DemokratInnen und SozialistInnen, sich
für die Öffnung der deutschen Archive in dieser Sache einzusetzen und Druck auf
die deutsche Regierung für die Anerkennung des Genozids auszuüben, ohne
dabei zu vergessen, dass die hauptsächliche Anstrengung, mit dem barbarischen
Verbrechen der türkischen Bourgeoisie und der beteiligten kurdischen Stämme
abzurechnen und die türkische Regierung zur Anerkennung zu bewegen, von der
türkischen und kurdischen Linken kommen muss. Dies ist der einzige Weg, wie
Fraternität und Vertrauen zwischen den Völkern in der Region wieder hergestellt
werden kann.
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Sungur Savran lebt in Istanbul und
ist einer der Herausgeber der Zeitschrift Gerçek (Wahrheit) sowie des
Theoriejournals Devrimci Marksizm (Revolutionärer Marxismus) – beide
türkischsprachig. Die Website RedMed enthält einige
seiner englischsprachigen Beiträge. Dort findet sich auch das Original dieses
Artikels.
Wir
danken dem Autor für die freundliche Erlaubnis, eine leicht gekürzte Übersetzung
auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.