Montag, 27. April 2015

Der Völkermord an den Armeniern: Eine offene Wunde

Von Sungur Savran

Entgegen der klassischen Erzählung, die die Verantwortung für den Genozid in der „Konstruktion einer türkischen Identität“ sucht, muss gefragt werden, warum die besagte Identität gerade in diesem historischen Moment so dominant geworden ist. Auf die türkische und kurdische Linke kommt die Aufgabe zu, mit den Hauptverantwortlichen für das barbarische Verbrechen abzurechnen. Die Komplizenschaft des Deutschen Reichs macht es dagegen zur Aufgabe der deutschen Linken, Druck auf ihre Regierung für die Öffnung der Archive und die Anerkennung auszuüben.


Dem Andenken an Stephan Shaumyan, armenisch-bolschewistischer Anführer der Kommune von Baku und Hrant Dink, armenisch-sozialistischer Intellektueller aus Istanbul, der bis zu seiner Ermordung 2007 eine Herkulesarbeit leistete, den Genozid ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit in der Türkei zu rücken.

Am 24. April 1915 wurden hunderte armenische Intellektuelle, Politiker und Gemeindeleiter in Istanbul (oder Konstantinopel, wie es damals im Westen genannt wurde) vom osmanischen Staat festgenommen, um ins Exil geschickt zu werden, von woher die meisten nie zurückkehrten. Dies wurde zum Fanal einer Kette von Ereignissen, die in einer Tragödie seltenen Ausmaßes in der modernen Geschichte kulminierte. Die Armenier, die seit uralten Zeiten im ost-anatolischen Hochplateau lebten, wurden aus ihren Häusern in die syrische Wüste nach Deir ez-Zor deportiert. Bis zu eineinhalb Millionen starben dabei. Frauen wurden entführt, vergewaltigt und getötet. Kleine Kinder wurden in Waisenhäuser verbracht und zwangsweise islamisiert. Das gesamte Eigentum der Armenier, Häuser und Gärten, Bauernhöfe und Obsthaine, Kühe und Schafe, Werkstätten und Werkzeuge, Handelshäuser und Fabriken wurden vom Staat beschlagnahmt oder einfach von der herrschenden Schicht angeeignet. Kirchen wurden zu Lagerhäusern gemacht oder dem Verfall überlassen, Krankenhäuser und Schulen der armenischen Gemeinde entwendet.

Am Vorabend des Ersten Weltkrieges lebten in Anatolien nach unterschiedlichen Schätzungen und Zählungen zwischen 1,2 und 2 Millionen Armenier. Am Ende des Krieges war einzig in Istanbul eine größere armenische Population geblieben – die Gesamtzahl war unter 100,000 gefallen. Was zur heutigen Türkei werden sollte, war von seiner armenischen Bevölkerung „gesäubert“ worden. Die Türken, die in Folge des Sieges der Seldschuken über die Byzantiner im Jahr 1071 nach Anatolien kamen, lebten mit den autochthonen Armeniern für beinahe ein Jahrtausend zusammen. Das Osmanische Reich betrachtete die Armenier als „loyale Nation“ und doch war es der gleiche Staat, der sie betrog, massakrierte, aus ihren Häusern und ihrem Mutterland vertrieb.

Es besteht keinerlei Zweifel an der Tatsache eines Genozids. Der türkische Staat und jene Historiker und Intellektuelle, die als sein Sprachrohr fungieren, haben beständig den Genozid verleugnet. Ihre Argumente reichen von der Minimierung der Opferzahlen bis zur Behauptung, es habe auf beiden Seiten Massaker gegeben. Sie vergessen zwei simple Fakten. Erstens, die armenische Bevölkerung wurde fast vollständig aus Anatolien ausgerottet. Und so ist das Zählen der Toten nur ein Teil der Genozid-Debatte. Zweitens, die Staatsmacht war in den Händen der dominanten türkischen Nation. Dies macht jedes Gerede über gegenseitiges Leid zu leerem Geschwätz.

Genozid als Klassenkampf

Die klassische Erzählung, die uns für dieses barbarische Verbrechen von der liberalen Geschichtsschreibung in der Türkei und der armenisch-nationalistischen Geschichtsschreibung im heutigen Armenien und der Diaspora angeboten wird, ist, dass es ein Ergebnis der „Konstruktion der türkischen Identität“ oder der „unionistischen Mentalität“ gewesen sei. Letzteres meint die Geisteshaltung des damals sich an der Regierung befindlichen jungtürkischen Komitees für Einheit und Fortschritt, auch Unionisten genannt. Dies sind idealistische Zugänge. Denn eigentlich müsste gefragt werden, warum die besagte Identität oder Mentalität gerade in diesem historischen Moment so dominant geworden ist. Aber es geht noch schlimmer. Unter Westlern, Armeniern und verwestlichten Türken ist die Vorstellung sehr verbreitet, dem Muslim oder dem Türken oder beiden hafte aufgrund der Natur ihrer Religion oder Ethnie irgendwie etwas Böses und Barbarisches an. Diese Art der rassistischen Charakterisierung wird heute selten öffentlich geäußert, findet sich aber immer noch in privaten Unterhaltungen.

Unser Blick auf die Determinanten des Völkermords an den Armeniern unterscheidet sich fundamental von dem fast aller Kommentatoren. Wir behaupten, es war ein Klassenkampf auf verschiedenen Ebenen, der hinter dem Genozid lag. Die grausamen Attacken gegen die Armenier hatten ihre frühesten Wurzeln in der Enteignung des Mehrprodukts der armenischen Bauern durch die herrschenden Schichten der kurdischen Stämme, die mit den Armeniern das gleiche Territorium teilten. Der spätere aber stärkere und sehr viel radikalere Schub kam von der entstehenden türkischen Bourgeoisie, die zur Jahrhundertwende gegen die ökonomische Dominanz der nicht-muslimischen besitzenden Klassen innerhalb der osmanischen Gesellschaft kämpfte. Diese Klassenfraktion wurde von den Unionisten repräsentiert und sie enteignete die armenische und auf eine andere Art die griechische Bevölkerung Anatoliens, um Kapital zu akkumulieren. So nahm die ursprüngliche Akkumulation in den Händen der türkischen Bourgeoisie den Weg eines Genozids an.

Die deutsche Komplizenschaft

Diese inneren Faktoren wurden verstärkt durch die Unterstützung, die die türkische Bourgeoisie von der deutschen Bourgeoisie erhielt, die das Osmanische Reich in der imperialistischen Konkurrenz zu anderen Bourgeoisien Europas benutzte. Diese Tatsache ist von großer Bedeutung. Deutschland war Verbündeter und Protektor des Osmanischen Reichs während des Ersten Weltkriegs. Die Kommandierenden der osmanischen Armee waren deutsche Feldmarschälle, Generäle und Admiräle. Es ist absolut unmöglich, dass der Genozid ohne deutsches Einvernehmen stattgefunden hat.

Das Deutsche Reich und der Kaiser waren bereits für den Genozid an den Herero in Namibia, was sie damals Deutsch-Südwestafrika nannten, verantwortlich. Von den Osmanen erwartete die Regierung des Kaisers, dass die Propagierung einer pan-türkistischen und pan-islamistischen politischen Offensive Russland und Großbritannien in ihren asiatischen Hinterhöfen bedrohen würde. Die Armenier standen diesem Ziel im Wege. So diente der Völkermord an den Armeniern in einem objektiven Sinn den Kriegszielen des deutschen Imperialismus. Sicherlich heißt das nicht notwendigerweise, dass das Deutsche Reich als aktiver Helfer am Genozid beteiligt war. Die Wahrheit in dieser Angelegenheit kann nur durch die Öffnung der Archive inklusive der streng geheimen Dokumente aufgedeckt werden.

Anerkennung des Völkermords als historische Tatsache

Worin liegt die Bedeutung von alledem? Beginnen wir mit etwas Grundsätzlichem. Die Anerkennung des Genozids als historische Tatsache ist ein erster Schritt, dem Leid des armenischen Volkes ein wenig abzuhelfen und ein Mindestmaß an Fraternität und Vertrauen zwischen den Völkern der Region wiederherzustellen.

Der türkische Staat und seine Sprachrohre leugnen beharrlich den Genozid. Wenn wir heute dennoch in der Lage sind, in der Türkei diese Frage offen zu diskutieren, so geht das größtenteils auf die Herkulesarbeit des vom sogenannten „tiefen Staat“ ermordeten Hrant Dink und seine weiterhin bestehende bilinguale Zeitung Agos zurück. Allerdings kann nicht gesagt werden, dass sich die Gesamtsituation unumkehrbar gewendet hätte. Der Genozid wird in den Medien noch immer als „der so genannte Genozid“ bezeichnet.

An dieser Stelle ist zu betonen, dass zahlreiche europäische Regierungen und Parlamente die Ereignisse von 1915 als Genozid anerkennen und die Türkei dazu aufgefordert haben, dies ebenfalls zu tun. Nicht so Deutschland, das sich in dieser Frage sehr bedeckt hält. Die Komplizenschaft des Deutschen Reichs verleiht diesem Akt seine besondere Note. Wenn Deutschland den Völkermord an den Armeniern mit eigenen Dokumenten in der Hand anerkennt, würde die ganze Frage aus der fatalen Polarisierung zwischen der Türkei und Armenien herausgelöst und die obskuren türkischen Positionen zum Genozid einen schweren Rückschlag erleiden.

Daher ist es eine besondere Aufgabe deutscher DemokratInnen und SozialistInnen, sich für die Öffnung der deutschen Archive in dieser Sache einzusetzen und Druck auf die deutsche Regierung für die Anerkennung des Genozids auszuüben, ohne dabei zu vergessen, dass die hauptsächliche Anstrengung, mit dem barbarischen Verbrechen der türkischen Bourgeoisie und der beteiligten kurdischen Stämme abzurechnen und die türkische Regierung zur Anerkennung zu bewegen, von der türkischen und kurdischen Linken kommen muss. Dies ist der einzige Weg, wie Fraternität und Vertrauen zwischen den Völkern in der Region wieder hergestellt werden kann.

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Sungur Savran lebt in Istanbul und ist einer der Herausgeber der Zeitschrift Gerçek (Wahrheit) sowie des Theoriejournals Devrimci Marksizm (Revolutionärer Marxismus) – beide türkischsprachig. Die Website RedMed enthält einige seiner englischsprachigen Beiträge. Dort findet sich auch das Original dieses Artikels.

Wir danken dem Autor für die freundliche Erlaubnis, eine leicht gekürzte Übersetzung auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.