Von
Ismail Doğa Karatepe und Özgür Genç
Wie konnte die AKP ihren Erfolg manifestieren? Die Gründe liegen nicht im Charisma Erdoğans, sondern darin, wie die AKP den islamischen Diskurs als Gemeinsamkeit zwischen Herrschenden und Beherrschten nutzt. Ebenso im Klientelismus: Ohne die neoliberale Linie aus den Augen zu verlieren, erschuf die türkische Regierung die Illusion einer Sozialpolitik. Allerdings stehen der Fähigkeit den Konsens unterschiedlicher Klassen und sozialer Kräfte zu organisieren, eine Ausweitung repressiver Mittel und eine polarisierende Politik gegenüber. Doch Polarisierung kann auch oppositionelle Kräfte vereinen – Erdoğans Dilemma.
Im Verlauf des letzten
Jahres wirkte es auf viele so, als würde das hegemoniale Projekt der AKP von
einer Reihe von Ereignissen, wie dem Juni-Aufstand, popularen Widerständen,
Korruptionsskandalen, Aufnahmen über die Versuche der Regierung einen Einmarsch
ihrer Streitkräfte in Syrien anzuzetteln oder die Polarisierung zwischen der
AKP und dem Gülen-Cemaat [1] erschüttert oder gar gestürzt werden. Dennoch und trotz allem gewann und
behielt sie die Unterstützung ihrer WählerInnen während der Lokalwahlen im März
und der Präsidentschaftswahlen im August. Die Wahlergebnisse und die
fortdauernde Unterstützung der AKP zeigen, dass sie immer noch die Fähigkeit
hat in großem Umfang neoliberale und konservative Hegemonie zu bilden oder
wieder zu etablieren. In diesem Artikel stellen wir eine einfach formulierte,
aber dennoch schwierige Frage: Wie haben Erdoğan und seine Partei – trotz der
regelmäßigen Beschuldigungen und Proteste – es vermocht ihre Hegemonie oder,
wie man sagen möchte, ihre „Popularität“ zu behalten? Wir bemühen uns die
Antworten weniger im Charisma oder in der Führerschaft der Person Erdoğan zu
suchen, als vielmehr in der materiellen und ideologischen Basis. Deshalb
diskutiert dieser Artikel die Beziehungen zwischen der Partei und den
Kapitalfraktionen, den popularen Klassen [2] sowie den
anderen sozialen Kräften, um zu analysieren, wie die AKP entlang ihrer eigenen
Linie unterschiedliche Elemente artikuliert.
Aufstieg der anatolischen Bourgeoisie und Aufstieg der AKP
Die islamistischen
Parteien sind seit langem von einer bestimmten Kapitalfraktion unterstützt
worden, die wir als Anatolische Bourgeoisie bezeichnen. Diese Fraktion nennt
sich selbst Anatolische Tiger (angelehnt an Ostasiatische Tiger), ist aber auch
weithin unter den Namen „Anatolisches Kapital“, „Islamisches Kapital“ und
„Grünes Kapital“ bekannt. Der Terminus anatolisch nimmt Bezug auf die
geographischen Ursprünge dieser Fraktion. Die letzten beiden Termini beziehen
sich auf ideologische Identität. Diese Fraktion ist direkt und indirekt mit
einigen islamischen Bruderschaften (Sekten) und anderen religiösen Netzwerken
ähnlicher Prägung verbunden. Im Laufe der neunziger Jahre waren einige
Vereinigungen von Geschäftsleuten als „Business-Flügel“ islamistischer Politik
etabliert worden. Diese haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, das
Netzwerk zwischen unterschiedlichen Firmen und Städten aufzubauen.
Hand in Hand mit dem
Aufstieg der Unternehmen, die der anatolischen Bourgeoisie zugerechnet werden,
gingen dank der klientelistischen Netzwerke der Partei ihre weiteren
Wahlerfolge – namentlich bei den Lokalwahlen 2004, 2009, 2014, den
Parlamentswahlen 2007 und 2011 sowie den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Der
bevorzugte Zugang bestimmter (Kapital-)Gruppen zu Regierungsaufträgen lässt
dabei Zweifel hinsichtlich des rapiden Wachstums einiger Unternehmen aufkommen.
Die klientelistischen Netzwerke zwischen der AKP und diesen bevorzugten Firmen
erscheinen der Ausweitung der finanziellen Basis der Partei überaus dienlich zu
sein.
Jenseits solcher
gegenseitiger materieller Interessen gibt es einen diskursiven Aspekt, der die
gegenseitige Abhängigkeit zwischen der islamistischen Partei und der
Anatolischen Bourgeoisie stärkt: Die Unternehmen fanden während der
Post-1980-Periode, als die formalen Arbeitsverhältnisse und die Gewerkschaften
rasch erodierten, einen fruchtbaren Boden. Industrielle Beziehungen, die vom
Paradigma der flexiblen Produktion geprägt sind, wurden ebenso vom
aufgekommenen islamistischen Diskurs beeinflusst.
Der islamistische Diskurs
der AKP eine wichtige Rolle dabei gespielt gegenseitiges Vertrauen herzustellen
und die Interessen der Arbeiterklasse und der konservativen Geschäftsleute zu
harmonisieren. Der Glaube wird als eine Gemeinsamkeit gewertet. In einem
solchen Setting wurde der Erfolg der AKP, der seinerseits den islamistischen
Diskurs weiter stärkte, unerlässlich für die Anatolische Bourgeoisie.
All die Argumente sollen
nicht so verstanden werden, als das die AKP und Tayyip Erdoğans politischer
Erfolg lediglich vom Aufstieg dieser einen Fraktion abhängen. Ebenso wenig
träfe die Schlussfolgerung zu, die AKP-Regierungen hätten die Anatolische
Bourgeoisie durch die Schwächung anderer privilegiert. Während der AKP-Periode
haben die anderen Kapitalfraktionen (insbesondere große Konglomerate, wie Koç
oder Sabancı) ihre gesamten Vermögenswerte, durch lukrative Investitionen und
die ihnen gebotenen vorteilhaften makroökonomischen Bedingungen, drastisch
erhöht. Außerdem sollten die Erfolge der einander ab folgenden islamistischen
Regierungen als Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen
Kapitalfraktionen zu finden, verstanden werden.
Sozialpolitik auf
Basis von Klientelismus
Hinsichtlich der
popularen Klassen sollten die Mechanismen der Redistribution und der
Sozialpolitiken als Kräfte diskutiert werden, die wahrscheinlich dazu
beitragen, die Unterstützung der popularen Klassen und die Wahlerfolge der
Partei zu generieren. In diesem Kontext ist der Moment, in dem die AKP zur Macht
kam, von entscheidender Bedeutung für ihr weiteres Regieren: Sie war direkt nach der Krise zur Macht
gekommen, als sich Arbeit und Arbeitslosigkeit für viele vertieft hatten.
Es war für die
AKP-Regierung unvermeidbar sich mit den Konsequenzen der Krise und
sozialpolitischen Bedürfnissen zu befassen; dies machte sie in der Tat.
Dennoch: die Frage ist, wie
war sie in
der Lage dies zu tun, ohne die neoliberale Strukturanpassung an sich
herauszufordern? Sie brachte einen Mittelweg hervor: Die Neuerfindung der
sozialen Hilfe ging einher mit neoliberalen sozialen Reformen: Die soziale
Sicherheit wurde sich in einer Weise ausgeweitet, so dass sie weit mehr als nur
die Beschäftigten des formalen Sektors erfasste. So haben ihre
sozialpolitischen Maßnahmen nicht den Charakter von Rechten und sind damit
nicht dauerhaft, sondern letztlich mildtätig. Ihre Mittel sind auf bestimmte
Gebiete beschränkt (der größte Anteil geht an die Kommunalverwaltungen in
İstanbul sowie einige Städte in denen knappe Wahlausgänge erwartet werden) oder
beschränken sich auf Zeiträume vor den Wahlen und Referenden beziehungsweise
auf bestimmte Klientelgruppen.
Diese Politik wird durch
das Ministerpräsidialamt, den Sozialhilfe- und Kooperationsfond (Başbakanlık
Sosyal Yardımlaşma ve Dayanışma Fonu) sowie Stiftungen unter seinem Dach und
von Kommunalverwaltungen betrieben. Mittels dieser Stiftungen und Netzwerke
stellt die Regierung soziale Hilfe, wie Lebensmittel, Kohle oder andere
Bedarfsgüter sowie die Grüne Karte [3] für die Armen bereit. Die Reformen der sozialen Sicherung und der
Gesundheitspolitik schlugen die Breschen für die Kommodifizierung des
Gesundheits- und Sozialversicherungssektors, bezogen aber viele andere, die
nicht im formellen Sektor tätig sind, in die soziale Sicherung mit ein; und kreierten so in den
Augen der Öffentlichkeit die Illusion einer breiten und inklusiven
Sozialpolitik. Nicht zuletzt so konnte und kann die AKP sich Unterstützung
unter den popularen Klassen verschaffen.
Ebenso wichtig ist es
kurz auf die ideologische Dimension der Stiftung von Hegemonie durch die AKP
und auf ihren emotionalen Zugang zu den popularen Klassen einzugehen. Die AKP
begründet ihre Wahlerfolge durch das Einsammeln der WählerInnen des rechten
Spektrums, die konservative, religiöse und nationalistische Werte haben. Der
Regierungsdiskurs, insbesondere der Diskurs Erdoğans über Religion, betont das
Versprechen „der einen“, starken und unabhängigen Nation. Bestimmte Interventionen
der Regierung in die Lebensstile der „anderen“ stören konservative Menschen
nicht. Sie selbst haben das Gefühl die Mächtigen zu sein, die durch die AKP
über eine Stimme verfügen, die ihrer gewünschten Weise zu Leben Gehör
verschafft.
Einigung der
Rechten, Zersplitterung der Opposition
Einer der Faktoren, der
hinter den Wahlerfolgen der AKP steht, ist ihre Beziehung zu anderen sozialen
Kräften, wie zum Beispiel politischen Parteien, Gewerkschaften und
außerparlamentarischen Gruppen. Die AKP hat seitdem sie zur Macht gekommen ist
erfolgreich eine Politik der Inklusion und Exklusion betrieben. Im Laufe der
Jahre hat die Partei mehr und mehr nicht nur islamistische Werte, sondern auch
nationalistische Elemente adaptiert. Durch diese Adaption hat sie die Politik
der Rechten unter ihrem Schirm konsolidiert. In der Tat ist sie zum nicht
herausgeforderten Machtzentrum innerhalb des rechten politischen Spektrums
geworden.
Als die AKP im Jahr 2002
zum ersten Mal in den Wahlkampf zog, war die Partei nicht mehr als eine
Splittergruppe der Milli-Görüş-Bewegung, entwickelte sich aber zum Sammelbecken
der rechten Bewegungen mit Ausnahme der ultrarechten und ultranationalistischen
Nationalen Bewegungspartei (MHP). Doch auch die Herzen von MHP-WählerInnen hat
die AKP bei vielen Gelegenheiten, wie zum Beispiel beim Verfassungsreferendum im
Jahr 2010, für sich gewinnen können. Seitdem die AKP zur Macht kam sind andere
rechte Parteien und außerparlamentarische Gruppen marginalisiert worden (in
einigen Fällen sind sie schlicht ausgetrocknet) oder sie wurden Teil der
Partei. Einige Kader solcher Parteien, die zur AKP wechselten, stiegen schnell
in der Hierarchie der Partei auf. Zum Beispiel löste sich die islamistische
Partei „Stimme des Volkes“ (HSP)
auf, um der AKP beizutreten und Nurman Kurtulmuş, der ehemalige Vorsitzende der
HSP, wurde stellvertretender Ministerpräsident in der jüngst gebildeten 62.
Regierung der Türkei.
Die herrschende Partei
hat sich nie verweigert Allianzen gegen ihre Feinde einzugehen. In ihren ersten
Jahren bildete die AKP zum Beispiel Allianzen mit Linksliberalen gegen die
nationalistische Opposition. Seit Kürzerem tendiert sie dazu, Allianzen mit
nationalistischen Kräften gegen ihre neuen Feinde, wie der Gülen-Bewegung [4] – eine der einflussreichsten islamistischen Bruderschaften - einzugehen. Die
Gülen-Bewegung, die lange als Erdoğans treuester Verbündeter gesehen wurde,
wird nun von AKP-Kadern
als öffentlicher Feind dargestellt. Das Formen von Allianzen sollte aber nicht
vereinfacht im Kontext eines Verständnisses von „der Feind meines Feindes ist
mein Freund“ diskutiert werden. Vielmehr haben Allianzen stark zur
ideologischen Vorherrschaft der Partei beigetragen.
Die AKP konnte stark von
einer fragmentierten Opposition profitieren, wie es auch kürzlich bei den
Präsidentschaftswahlen zu beobachten gewesen ist. Recep Tayyip Erdoğan und
andere führende AKP-Kader
haben von den ideologischen Differenzen zwischen den oppositionellen Kräften
profitiert. Sie waren erfolgreich im Befestigen der Demarkationslinie zwischen
der Kurdischen Bewegung und der nationalistischen/selbsterklärten
sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP. Es ist ihnen auch
gelungen. die sozialistischen Bewegungen von anderen oppositionellen Kräften,
wie Gewerkschaften, Berufsverbänden [5] und popularen Bewegungen, zu isolieren – zum Beispiel während des
Juni-Aufstands durch Kriminalisierung (Marginalisierung) der ersteren und
Minimierung der Forderungen der letzteren.
Konsolidierter
Rechtsblock und wachsende Paramilitarisierung
Allerdings sollte uns
dieses Argument nicht zu der Annahme verführen, dass Maßnahmen des Zwangs ein
selten eingesetztes Instrument sind, um Dissidenten zu unterdrücken. Die Partei
mobilisierte außerparlamentarische militante Gruppen, wie zum Beispiel im Jahr
2013 während der Juni-Revolte oder kürzlich während der Proteste gegen den
Islamischen Staat (IS). Die Mobilisierung als solche zeigt, dass die AKP ihre
breite nationalistisch/islamistisch-rechte Basis konsolidiert hat – nicht nur
zu Wahlkampfzeiten. Der konsolidierte Rechtsblock war eines der wichtigsten
Instrumente, um während der Revolten die Straßen zu kontrollieren.
Die AKP ist darin
erfolgreich gewesen, Konsens von verschiedenen sozialen und politischen Gruppen
sowie den popularen Klassen zu organisieren, um ihre hegemonialen Projekte zu
bilden und zu realisieren. Trotz der Wahlergebnisse, die einige Segmente der
Gesellschaft in der Türkei überrascht haben, hilft der nähere Blick auf die
Beziehungen der verschiedenen Gruppen zu verstehen, woraus sich die
Unterstützung für die Regierung zusammensetzt, die ihren Wahlerfolg ausmacht.
So entsteht ein besseres Verständnis für die Artikulation der unterschiedlichen
sozialen Kräfte im politischen Prozess. Zusammen mit diesen
außerparlamentarischen paramilitärischen Kräften und der Kontrolle der Partei
über die Justiz, ist allerdings für die Zukunft mit noch mehr repressiven
Maßnahmen zu rechnen. Darin liegt aktuell Erdoğans Dilemma. Insofern die AKP
Zwang forciert, treibt sie die Polarisierung voran, und relativiert so
Trennendes zwischen den unterschiedlichen oppositionellen Kräften, was den Weg
für außerparlamentarische Politik öffnen kann.
[1] Cemaat ist die in der
Türkei gängige Bezeichnung für die Gülen-Bewegung. Sie wird ihrem Charakter
zwischen religiöser Sekte, wirtschaftlichen Netzwerk und politischer Bewegung
am besten gerecht.
[2] Der Begriff der
popularen Klassen stammt aus der Staatstheorie von Nicos Poulantzas und
bezeichnet die Vielzahl der Gruppen von Menschen, die nicht zu den herrschenden
Klassen gehören oder wichtige Positionen in den Staatsapparaten bekleiden.
[3] Die Grüne Karte ist ein
Dokument, das zur Inanspruchnahme einer kostenlosen medizinischen
Grundversorgung berechtigt. Ihre Beantragung und Prüfung durch lokale
Autoritäten tragen stark klientelistische Züge.
[4] Hintergrund zur
Auseinandersetzung zwischen dem Gülen-Cemaat und der AKP: Babacan, E. (2013)
Vom Juni-Aufstand zur Palastrevolution – Korruption in der Türkei:
http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2014/02/vom-juni-aufstand-zur-palastrevolution.html
[5] In der Türkei sind
einige Berufsverbände zum Teil deutlich politischer ausgerichtet als in
Deutschland. Sie waren, wie derjenige
der ArchitektInnen und StadtplanerInnen, von Beginn an in den Gezi-Protesten
präsent.