Dienstag, 21. Oktober 2014

Erdoğans Dilemma II

Von Ismail Doğa Karatepe und Özgür Genç

Wie konnte die AKP ihren Erfolg manifestieren? Die Gründe liegen nicht im Charisma Erdoğans, sondern darin, wie die AKP den islamischen Diskurs als Gemeinsamkeit zwischen Herrschenden und Beherrschten nutzt. Ebenso im Klientelismus: Ohne die neoliberale Linie aus den Augen zu verlieren, erschuf die türkische Regierung die Illusion einer Sozialpolitik. Allerdings stehen der Fähigkeit den Konsens unterschiedlicher Klassen und sozialer Kräfte zu organisieren, eine Ausweitung repressiver Mittel und eine polarisierende Politik gegenüber. Doch Polarisierung kann auch oppositionelle Kräfte vereinen – Erdoğans Dilemma.
Im Verlauf des letzten Jahres wirkte es auf viele so, als würde das hegemoniale Projekt der AKP von einer Reihe von Ereignissen, wie dem Juni-Aufstand, popularen Widerständen, Korruptionsskandalen, Aufnahmen über die Versuche der Regierung einen Einmarsch ihrer Streitkräfte in Syrien anzuzetteln oder die Polarisierung zwischen der AKP und dem Gülen-Cemaat [1] erschüttert oder gar gestürzt werden. Dennoch und trotz allem gewann und behielt sie die Unterstützung ihrer WählerInnen während der Lokalwahlen im März und der Präsidentschaftswahlen im August. Die Wahlergebnisse und die fortdauernde Unterstützung der AKP zeigen, dass sie immer noch die Fähigkeit hat in großem Umfang neoliberale und konservative Hegemonie zu bilden oder wieder zu etablieren. In diesem Artikel stellen wir eine einfach formulierte, aber dennoch schwierige Frage: Wie haben Erdoğan und seine Partei – trotz der regelmäßigen Beschuldigungen und Proteste – es vermocht ihre Hegemonie oder, wie man sagen möchte, ihre „Popularität“ zu behalten? Wir bemühen uns die Antworten weniger im Charisma oder in der Führerschaft der Person Erdoğan zu suchen, als vielmehr in der materiellen und ideologischen Basis. Deshalb diskutiert dieser Artikel die Beziehungen zwischen der Partei und den Kapitalfraktionen, den popularen Klassen [2] sowie den anderen sozialen Kräften, um zu analysieren, wie die AKP entlang ihrer eigenen Linie unterschiedliche Elemente artikuliert.

Aufstieg der anatolischen Bourgeoisie und Aufstieg der AKP
Die islamistischen Parteien sind seit langem von einer bestimmten Kapitalfraktion unterstützt worden, die wir als Anatolische Bourgeoisie bezeichnen. Diese Fraktion nennt sich selbst Anatolische Tiger (angelehnt an Ostasiatische Tiger), ist aber auch weithin unter den Namen „Anatolisches Kapital“, „Islamisches Kapital“ und „Grünes Kapital“ bekannt. Der Terminus anatolisch nimmt Bezug auf die geographischen Ursprünge dieser Fraktion. Die letzten beiden Termini beziehen sich auf ideologische Identität. Diese Fraktion ist direkt und indirekt mit einigen islamischen Bruderschaften (Sekten) und anderen religiösen Netzwerken ähnlicher Prägung verbunden. Im Laufe der neunziger Jahre waren einige Vereinigungen von Geschäftsleuten als „Business-Flügel“ islamistischer Politik etabliert worden. Diese haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, das Netzwerk zwischen unterschiedlichen Firmen und Städten aufzubauen.
Hand in Hand mit dem Aufstieg der Unternehmen, die der anatolischen Bourgeoisie zugerechnet werden, gingen dank der klientelistischen Netzwerke der Partei ihre weiteren Wahlerfolge – namentlich bei den Lokalwahlen 2004, 2009, 2014, den Parlamentswahlen 2007 und 2011 sowie den jüngsten Präsidentschaftswahlen. Der bevorzugte Zugang bestimmter (Kapital-)Gruppen zu Regierungsaufträgen lässt dabei Zweifel hinsichtlich des rapiden Wachstums einiger Unternehmen aufkommen. Die klientelistischen Netzwerke zwischen der AKP und diesen bevorzugten Firmen erscheinen der Ausweitung der finanziellen Basis der Partei überaus dienlich zu sein.
Jenseits solcher gegenseitiger materieller Interessen gibt es einen diskursiven Aspekt, der die gegenseitige Abhängigkeit zwischen der islamistischen Partei und der Anatolischen Bourgeoisie stärkt: Die Unternehmen fanden während der Post-1980-Periode, als die formalen Arbeitsverhältnisse und die Gewerkschaften rasch erodierten, einen fruchtbaren Boden. Industrielle Beziehungen, die vom Paradigma der flexiblen Produktion geprägt sind, wurden ebenso vom aufgekommenen islamistischen Diskurs beeinflusst.
Der islamistische Diskurs der AKP eine wichtige Rolle dabei gespielt gegenseitiges Vertrauen herzustellen und die Interessen der Arbeiterklasse und der konservativen Geschäftsleute zu harmonisieren. Der Glaube wird als eine Gemeinsamkeit gewertet. In einem solchen Setting wurde der Erfolg der AKP, der seinerseits den islamistischen Diskurs weiter stärkte, unerlässlich für die Anatolische Bourgeoisie.
All die Argumente sollen nicht so verstanden werden, als das die AKP und Tayyip Erdoğans politischer Erfolg lediglich vom Aufstieg dieser einen Fraktion abhängen. Ebenso wenig träfe die Schlussfolgerung zu, die AKP-Regierungen hätten die Anatolische Bourgeoisie durch die Schwächung anderer privilegiert. Während der AKP-Periode haben die anderen Kapitalfraktionen (insbesondere große Konglomerate, wie Koç oder Sabancı) ihre gesamten Vermögenswerte, durch lukrative Investitionen und die ihnen gebotenen vorteilhaften makroökonomischen Bedingungen, drastisch erhöht. Außerdem sollten die Erfolge der einander ab folgenden islamistischen Regierungen als Fähigkeit, ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen zu finden, verstanden werden.
Sozialpolitik auf Basis von Klientelismus
Hinsichtlich der popularen Klassen sollten die Mechanismen der Redistribution und der Sozialpolitiken als Kräfte diskutiert werden, die wahrscheinlich dazu beitragen, die Unterstützung der popularen Klassen und die Wahlerfolge der Partei zu generieren. In diesem Kontext ist der Moment, in dem die AKP zur Macht kam, von entscheidender Bedeutung für ihr weiteres Regieren:  Sie war direkt nach der Krise zur Macht gekommen, als sich Arbeit und Arbeitslosigkeit für viele vertieft hatten.
Es war für die AKP-Regierung unvermeidbar sich mit den Konsequenzen der Krise und sozialpolitischen Bedürfnissen zu befassen; dies machte sie in der Tat. Dennoch: die Frage ist, wie war sie in der Lage dies zu tun, ohne die neoliberale Strukturanpassung an sich herauszufordern? Sie brachte einen Mittelweg hervor: Die Neuerfindung der sozialen Hilfe ging einher mit neoliberalen sozialen Reformen: Die soziale Sicherheit wurde sich in einer Weise ausgeweitet, so dass sie weit mehr als nur die Beschäftigten des formalen Sektors erfasste. So haben ihre sozialpolitischen Maßnahmen nicht den Charakter von Rechten und sind damit nicht dauerhaft, sondern letztlich mildtätig. Ihre Mittel sind auf bestimmte Gebiete beschränkt (der größte Anteil geht an die Kommunalverwaltungen in İstanbul sowie einige Städte in denen knappe Wahlausgänge erwartet werden) oder beschränken sich auf Zeiträume vor den Wahlen und Referenden beziehungsweise auf bestimmte Klientelgruppen.
Diese Politik wird durch das Ministerpräsidialamt, den Sozialhilfe- und Kooperationsfond (Başbakanlık Sosyal Yardımlaşma ve Dayanışma Fonu) sowie Stiftungen unter seinem Dach und von Kommunalverwaltungen betrieben. Mittels dieser Stiftungen und Netzwerke stellt die Regierung soziale Hilfe, wie Lebensmittel, Kohle oder andere Bedarfsgüter sowie die Grüne Karte [3] für die Armen bereit. Die Reformen der sozialen Sicherung und der Gesundheitspolitik schlugen die Breschen für die Kommodifizierung des Gesundheits- und Sozialversicherungssektors, bezogen aber viele andere, die nicht im formellen Sektor tätig sind, in die soziale Sicherung mit ein; und kreierten so in den Augen der Öffentlichkeit die Illusion einer breiten und inklusiven Sozialpolitik. Nicht zuletzt so konnte und kann die AKP sich Unterstützung unter den popularen Klassen verschaffen.
Ebenso wichtig ist es kurz auf die ideologische Dimension der Stiftung von Hegemonie durch die AKP und auf ihren emotionalen Zugang zu den popularen Klassen einzugehen. Die AKP begründet ihre Wahlerfolge durch das Einsammeln der WählerInnen des rechten Spektrums, die konservative, religiöse und nationalistische Werte haben. Der Regierungsdiskurs, insbesondere der Diskurs Erdoğans über Religion, betont das Versprechen „der einen“, starken und unabhängigen Nation. Bestimmte Interventionen der Regierung in die Lebensstile der „anderen“ stören konservative Menschen nicht. Sie selbst haben das Gefühl die Mächtigen zu sein, die durch die AKP über eine Stimme verfügen, die ihrer gewünschten Weise zu Leben Gehör verschafft.
Einigung der Rechten, Zersplitterung der Opposition
Einer der Faktoren, der hinter den Wahlerfolgen der AKP steht, ist ihre Beziehung zu anderen sozialen Kräften, wie zum Beispiel politischen Parteien, Gewerkschaften und außerparlamentarischen Gruppen. Die AKP hat seitdem sie zur Macht gekommen ist erfolgreich eine Politik der Inklusion und Exklusion betrieben. Im Laufe der Jahre hat die Partei mehr und mehr nicht nur islamistische Werte, sondern auch nationalistische Elemente adaptiert. Durch diese Adaption hat sie die Politik der Rechten unter ihrem Schirm konsolidiert. In der Tat ist sie zum nicht herausgeforderten Machtzentrum innerhalb des rechten politischen Spektrums geworden.
Als die AKP im Jahr 2002 zum ersten Mal in den Wahlkampf zog, war die Partei nicht mehr als eine Splittergruppe der Milli-Görüş-Bewegung, entwickelte sich aber zum Sammelbecken der rechten Bewegungen mit Ausnahme der ultrarechten und ultranationalistischen Nationalen Bewegungspartei (MHP). Doch auch die Herzen von MHP-WählerInnen hat die AKP bei vielen Gelegenheiten, wie zum Beispiel beim Verfassungsreferendum im Jahr 2010, für sich gewinnen können. Seitdem die AKP zur Macht kam sind andere rechte Parteien und außerparlamentarische Gruppen marginalisiert worden (in einigen Fällen sind sie schlicht ausgetrocknet) oder sie wurden Teil der Partei. Einige Kader solcher Parteien, die zur AKP wechselten, stiegen schnell in der Hierarchie der Partei auf. Zum Beispiel löste sich die islamistische Partei „Stimme des Volkes“ (HSP) auf, um der AKP beizutreten und Nurman Kurtulmuş, der ehemalige Vorsitzende der HSP, wurde stellvertretender Ministerpräsident in der jüngst gebildeten 62. Regierung der Türkei.
Die herrschende Partei hat sich nie verweigert Allianzen gegen ihre Feinde einzugehen. In ihren ersten Jahren bildete die AKP zum Beispiel Allianzen mit Linksliberalen gegen die nationalistische Opposition. Seit Kürzerem tendiert sie dazu, Allianzen mit nationalistischen Kräften gegen ihre neuen Feinde, wie der Gülen-Bewegung [4] – eine der einflussreichsten islamistischen Bruderschaften - einzugehen. Die Gülen-Bewegung, die lange als Erdoğans treuester Verbündeter gesehen wurde, wird nun von AKP-Kadern als öffentlicher Feind dargestellt. Das Formen von Allianzen sollte aber nicht vereinfacht im Kontext eines Verständnisses von „der Feind meines Feindes ist mein Freund“ diskutiert werden. Vielmehr haben Allianzen stark zur ideologischen Vorherrschaft der Partei beigetragen.
Die AKP konnte stark von einer fragmentierten Opposition profitieren, wie es auch kürzlich bei den Präsidentschaftswahlen zu beobachten gewesen ist. Recep Tayyip Erdoğan und andere führende AKP-Kader haben von den ideologischen Differenzen zwischen den oppositionellen Kräften profitiert. Sie waren erfolgreich im Befestigen der Demarkationslinie zwischen der Kurdischen Bewegung und der nationalistischen/selbsterklärten sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei CHP. Es ist ihnen auch gelungen. die sozialistischen Bewegungen von anderen oppositionellen Kräften, wie Gewerkschaften, Berufsverbänden [5] und popularen Bewegungen, zu isolieren – zum Beispiel während des Juni-Aufstands durch Kriminalisierung (Marginalisierung) der ersteren und Minimierung der Forderungen der letzteren.
Konsolidierter Rechtsblock und wachsende Paramilitarisierung
Allerdings sollte uns dieses Argument nicht zu der Annahme verführen, dass Maßnahmen des Zwangs ein selten eingesetztes Instrument sind, um Dissidenten zu unterdrücken. Die Partei mobilisierte außerparlamentarische militante Gruppen, wie zum Beispiel im Jahr 2013 während der Juni-Revolte oder kürzlich während der Proteste gegen den Islamischen Staat (IS). Die Mobilisierung als solche zeigt, dass die AKP ihre breite nationalistisch/islamistisch-rechte Basis konsolidiert hat – nicht nur zu Wahlkampfzeiten. Der konsolidierte Rechtsblock war eines der wichtigsten Instrumente, um während der Revolten die Straßen zu kontrollieren.
Die AKP ist darin erfolgreich gewesen, Konsens von verschiedenen sozialen und politischen Gruppen sowie den popularen Klassen zu organisieren, um ihre hegemonialen Projekte zu bilden und zu realisieren. Trotz der Wahlergebnisse, die einige Segmente der Gesellschaft in der Türkei überrascht haben, hilft der nähere Blick auf die Beziehungen der verschiedenen Gruppen zu verstehen, woraus sich die Unterstützung für die Regierung zusammensetzt, die ihren Wahlerfolg ausmacht. So entsteht ein besseres Verständnis für die Artikulation der unterschiedlichen sozialen Kräfte im politischen Prozess. Zusammen mit diesen außerparlamentarischen paramilitärischen Kräften und der Kontrolle der Partei über die Justiz, ist allerdings für die Zukunft mit noch mehr repressiven Maßnahmen zu rechnen. Darin liegt aktuell Erdoğans Dilemma. Insofern die AKP Zwang forciert, treibt sie die Polarisierung voran, und relativiert so Trennendes zwischen den unterschiedlichen oppositionellen Kräften, was den Weg für außerparlamentarische Politik öffnen kann.


[1] Cemaat ist die in der Türkei gängige Bezeichnung für die Gülen-Bewegung. Sie wird ihrem Charakter zwischen religiöser Sekte, wirtschaftlichen Netzwerk und politischer Bewegung am besten gerecht.
[2] Der Begriff der popularen Klassen stammt aus der Staatstheorie von Nicos Poulantzas und bezeichnet die Vielzahl der Gruppen von Menschen, die nicht zu den herrschenden Klassen gehören oder wichtige Positionen in den Staatsapparaten bekleiden.
[3] Die Grüne Karte ist ein Dokument, das zur Inanspruchnahme einer kostenlosen medizinischen Grundversorgung berechtigt. Ihre Beantragung und Prüfung durch lokale Autoritäten tragen stark klientelistische Züge.
[4] Hintergrund zur Auseinandersetzung zwischen dem Gülen-Cemaat und der AKP: Babacan, E. (2013) Vom Juni-Aufstand zur Palastrevolution – Korruption in der Türkei: http://infobrief-tuerkei.blogspot.de/2014/02/vom-juni-aufstand-zur-palastrevolution.html
[5] In der Türkei sind einige Berufsverbände zum Teil deutlich politischer ausgerichtet als in Deutschland. Sie waren, wie  derjenige der ArchitektInnen und StadtplanerInnen, von Beginn an in den Gezi-Protesten präsent.