Dienstag, 21. Oktober 2014

Abwendung von Europa? Die EU und das liberal-konservativ-islamistische Bündnis in der Türkei

Von Axel Gehring

Vor der Juni-Revolte im Jahr 2013 galt die AKP in Europa fast als die türkische Version der CDU. Selbst nach Niederschlagung der Revolte hatte die EU eine ambivalente Beziehung zur Türkei. Doch wendet sich die bisher pro-europäische türkische Regierung – wie einige Indizien dies scheinbar zeigen – von der EU ab und nähert sich dem Osten? Oder führt der Weg zum Westen quer durch den Osten? Es gilt zu verstehen, dass der politische Islam nicht per se in einem Widerspruch zur EU steht, sondern lang tradierte gemeinsame Interessen vorherrschen
 
Die türkische Juni-Revolte, die Ende Mai 2013 im Istanbuler Gezi Park ihren Ausgangspunkt genommen hatte, kann auch als ein Ereignis betrachtet werden, das die Erzählung vom Demokratisierungsprojekt unter der Ägide einer "islamisch-konservativen" AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi - Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) beendete. Nach der lang anhaltenden freundlichen Berichterstattung in der EU über das "Modell Türkei" markiert die Revolte einen diskursiven Bruch. Wurde bis weit in die 2010er Jahre hinein die Leistung der regierenden AKP (mit Kritik an Einzelpunkten) gewürdigt, so hat sich das Bild nun gewandelt: Längst wird nicht mehr nur über ein „ins Stocken geratenes EU-Projekt“ berichtet, sondern auch die Frage nach dem Charakter des Regimes gestellt – und beantwortet: Benommen vom Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre befinde sich die Türkei unter einer immer autoritärer regierenden AKP auf dem Weg in Richtung "Osten". Auch die türkische Unterstützung des Islamischen Staates (IS), der noch immer die syrisch-kurdische Stadt Kobanê belagert, scheint in dieses Bild zu passen. Doch bis vor nicht allzu langer Zeit würdigten dieselben Medien die AKP für ihre Politik der "Annäherung an die EU" sowie ihre "Reformen bei Demokratie und Menschenrechten" und waren fasziniert vom "Wirtschaftswunder am Bosporus" und "den historischen Schritten der AKP bei der Lösung der kurdischen Frage". Trotz ihrer Kontinuität zur autoritär neoliberalen Politik der Vorgänger-Regierungen wurde die AKP als radikal neue Alternative zu den "alten und korrupten Parteien", als Ausdruck der "Subalternen Anatoliens gegen westtürkische Dominanz" und als "konservativ-demokratische" Antwort auf einen "autoritären und elitären Laizismus" wahrgenommen. So galt ihre Politik "religiöser und kultureller Pluralität" verpflichtet. Obgleich Teil einer der Selbstdarstellungsstrategie der Partei, stieß diese Wahrnehmung auf breite Resonanz – gerade unter westlichen Wissensschaffenden. Die AKP schien mit dem autoritären Erbe des Kemalismus und einem Komplex aus Militär und Staatsbürokratie gebrochen sowie einen Sprung Richtung Europa gemacht zu haben. Erst die türkische Revolte des Sommers 2013 sollte in Europa den Blick auf die Agenda der AKP ändern: Die Errichtung eines Einkaufszentrums in Gestalt einer alten osmanischen Kaserne auf einer öffentlichen Parkfläche symbolisierte wie kaum etwas anderes die von der AKP forcierte Politik einer islamistischen Kodierung der gesellschaftlichen Reproduktion, die sich ihrerseits den Paradigmen einer neoliberalen Rationalität zu beugen hatte. Und brutale Repression gegen die Protestierenden die autoritäre Praxis der AKP-Regierung mehr als bloß symbolisch offenlegte.

Doch hat es ihn wirklich gegeben, den Schwenk der AKP Richtung "Osten"? Oder haben vielmehr die haben -Revolte und die türkische Unterstützung für den IS dafür gesorgt, dass weite Teile der westlichen Öffentlichkeit die gleichen Politiken, die sie bis vor kurzem als Schritte in Richtung Europa gedeutet hatten, nunmehr als eine Form autoritärer Islamisierung und Abkehr von Europa wahrnehmen? Eine Antwort auf diese Fragen muss zunächst analysieren, welche Bedeutung Europa beziehungsweise die EU für die politischen Kräfte in der Türkei hat, vor allem für das islamistisch-liberal-konservative Bündnis unter der AKP. Dies geschieht im Folgenden anhand einer kleinen geschichtlichen Exkursion...

Das Erbe der Liberal-Konservativen: Mit Europa gegen den kemalistischen Modernismus

Die Gründung des türkischen Nationalstaates war von einem heterogenen Bündnis aus Intellektuellen, Offizieren, BäuerInnen und einer schwachen türkischen Bourgeoisie betrieben worden. Nach Massaker und Vertreibungen großer Teile der armenischen und griechischen Bevölkerung hatten sie während des 1. Weltkrieges einen Elitenwandel forciert, der durch die militärische Niederlage des Osmanischen Reiches 1918 wieder zur Disposition gestellt wurde. Als Reaktion darauf wurde der von 1919 bis 1922 währende „Unabhängigkeitskrieg“ geführt, mit dem Ziel, eine moderne türkische Nation und einen bürgerlichen Staat zu schaffen. Die Führung des Krieges oblag wesentlich dem Militär und Teilen der Bürokratie. Im darauffolgenden Prozess des nation building nahmen sie eine exponierte Rolle ein. Obwohl dieses Projekt insofern europäisch war, als zahlreiche Institutionen und ganze Gesetzbücher direkt aus europäischen Staaten übernommen wurden, war es zugleich eine "Europäisierung trotz Europa": Die alten osmanischen Eliten wurden als abhängig von Europa wahrgenommen. Dies wiederum wurde als wichtige Ursache für das Scheitern der Modernisierungsbestrebungen des Reiches gewertet. Die nun etablierten kapitalistischen Beziehungen sollten die Türkei in die Moderne führen und auf das "Niveau der gegenwärtigen Zivilisation" heben. Moderne wurde dabei selbstredend als Entfaltung kapitalistischer Beziehungen verstanden und forciert. Zugleich negierte und unterdrückte dieser Modernismus Klassenunterschiede, was nicht nur die Lohnarbeitenden zu spüren bekamen – jede Form ihrer eigenständigen Organisation und selbstverständlich auch Streiks waren verboten – sondern nach der 1929er Weltwirtschaftskrise auch die Bourgeoisie: Nationalen Entwicklungszielen wurde unbedingt Vorrang gegeben, wobei die Definition dieser Ziele wesentlich in den Händen der kemalistischen Einheitspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi - Republikanische Volkspartei) lag.

Die Entfernung der alten osmanischen Eliten und die repressive Marginalisierung der kurdischen Minderheit waren in der frühen Republik eng mit der Säkularisierung von Staat, Rechts- und Erziehungswesen durch die ehemaligen Militärs verknüpft. Mit der Schaffung zentraler Institutionen einer bürgerlich-liberalen Staatlichkeit durch die Bürokratie – und den in ihr präsenten ehemaligen Militärs – wurde der Prozess kapitalistischer Entwicklung und Rationalisierung weiter vorangetrieben.

Doch die Rolle der staatlichen Bürokratie sollte sich rasch relativieren. In den späten 1930er Jahren verlangten große Teile des Bürgertums nach mehr Autonomie von den Staatsapparaten. So bildete sich schon in der Gründungsphase der Republik eine marktliberale und kulturell konservative Strömung. Sie versuchte dem kemalistischen Modernismus einen konservativen Populismus entgegenzusetzen. Mit zunehmendem Erfolg organisierte sie ein Bündnis zwischen den alten osmanischen Eliten und der in kapitalistische Markbeziehungen eingebundenen Landbevölkerung unter Führung einer wachsenden Unternehmer-Klasse, die sich vom Staat bevormundet fühlte. Diese Strömung betrachtete sich als legitime Vertreterin der "einfachen Bevölkerung" gegenüber den modernistischen "bürokratischen Eliten" des Landes. Seit 1946 parteiförmig organisiert, gelang es ihr 1950 erstmals in Gestalt der DP (Demokrat Parti - Demokratische Partei) die Regierung zu stellen. 1959 stellte sie den Antrag auf Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Damit wollte sie nicht nur einen vereinfachten Marktzugang nach Europa erreichen, sondern auch einen modernistischen Entwicklungsstaat kemalistischer Prägung verhindern.

So war die türkische Auseinandersetzung über Europa ein Widerstreit zweier Strömungen, wobei sich ausgerechnet die konservative als pro-europäische erwies: Während die kemalistischen Kräfte eine national ausgerichtete Variante kapitalistischer Entwicklung und kultureller Modernisierung bevorzugten, forcierten die liberal-konservativen Kräfte ein Projekt der Annäherung an Europa. Widerstand dagegen leisteten nicht nur kemalistische, sondern auch linke Kräfte – aus Sorge um die sozialen Folgen ökonomischer Liberalisierung, aber auch aus Angst vor dem Verlust modernistischer Errungenschaften, die sie durch ein Bündnis der Konservativ-Liberalen mit "dem Imperialismus" (vulgo EWG) bedroht sahen. So war die seit der 1960er Jahren erstarkende türkische Linke eine ausgeprägt nationalistische. Und sowohl die europäischen als auch die US-amerikanischen Eliten betrachteten nicht nur sie, sondern auch die modernistisch-kemalistische Strömung in der Türkei mit großer Skepsis.

Aufstieg des politischen Islam und Transformation seines Europabegriffs

Obwohl das liberal-konservative Bündnis seither ökonomisch wie politisch die Oberhand behielt, auch durch zeitweilige linke Konjunkturen in den 1960er und 1970er Jahren nicht durchbrochen werden konnte, gewann eine Erzählung mehr und mehr an Bedeutung, die sich ausgerechnet oppositionell gab - die der Dominanz eines modernistisch-kemalistischen Zentrums über die Peripherie. So wird der Militärputsch vom 12. September 1980 noch heute als Aktion kemalistischer Eliten gelesen, obgleich wichtige Vertreter des liberal-konservativen Bündnisses um die Intervention gebeten hatten, fest in den Staatsapparaten verankert waren und auch während und nach der Junta in zahlreichen Schlüsselpositionen weiter regierten. Vielmehr war dieser Putsch ganz im Dienste des konservativen Establishments. Er ermöglichte vor allem neoliberale Reformen auf die Agenda zu setzen, gegen die sich bis dahin gesellschaftlicher Widerstand geregt hatte. Den brauchten die Herrschenden zunächst nicht mehr zu fürchten. Die nun eingeleiteten Neoliberalisierungsmaßnahmen waren komplementär zum europäischen Binnenmarkt. 1987 stellte die konservative Regierung Antrag auf Mitgliedschaft in der EG. 1996 konnte schließlich die Zollunion mit der EU realisiert werden.

Eine Herausforderung für das Europaprojekt stellte in dieser Zeit vor allem der in der RP (Refah Partisi - Wohlfahrtspartei) organisierte politische Islam dar. Er vertrat und bündelte bereits seit den späten 1960er Jahren jene gesellschaftlichen Gruppen, die zu den Verlierern des populistischen Kapitalismus vor 1980 und des neoliberalen Kapitalismus nach 1980 gehörten: proletarisierte Massen sowie kleinere und mittelständische Kapitalisten, die sich dem ökonomischen Modernisierungsdruck nicht gewachsen fühlten – ähnlich wie vor 1980 das kemalistische und linke Spektrum. Sie traten auch für eine stärkere Protektion der türkischen Ökonomie ein und teilten den ausgeprägten Nationalismus von Linken und Kemalisten, den sie unter Bezugnahme auf die "verlorene osmanische Größe" allerdings islamisch-sunnitisch definierten. Dazu gehörten auch der Kampf gegen "kulturelle Europäisierung" und der Versuch einer Hinwendung zu den islamischen Nachbarstaaten, die als Exportmärkte an Bedeutung gewonnen hatten. Ihre Koalitionsregierung scheiterte 1997 nach weniger als zwei Jahren. Gegen die Politik der kulturellen Islamisierung formierte sich ein breites Bündnis, das von der gewerkschaftlichen bis zur feministischen Linken und den wichtigsten ökonomischen Eliten reichte. Ein Memorandum der Streitkräfte erzwang schließlich den Abtritt der ersten islamistischen Regierung in der Türkei.

Diese Erfahrung wirkte katalytisch auf die weitere Entwicklung des politischen Islam in der Türkei und veränderte auch dessen Verhältnis zu Europa: EU-Reformen nach den Kriterien von Kopenhagen boten auf einmal die Perspektive zahlreiche Staatsapparate, darunter Justiz und Militär, umzubauen und so eine Wiederholung der Erfahrung von 1997 zu vermeiden. Dass die Erzählung von der Dominanz eines modernistisch-kemalistischen Zentrums auch unter den Intellektuellen Europas verbreitet war, kam dem politischen Islam in der Türkei zupass und wurde teils strategisch genutzt. An die Stelle der "gerechten Ordnung" – eines islamistisch-kommunitaristischen Gesellschaftsentwurfes – trat bei der sich nun formierenden AKP die "Konservative Demokratie", präsentiert als Alternative zum bürokratischen Kemalismus. Damit war es dem politischen Islam gelungen, seine (weiterhin islamistische) Agenda als einen Europa gegenüber aufgeschlossenen, gemäßigten Konservatismus darzustellen. Aus Sicht konservativer und liberaler Intellektueller in Europa war nun die "türkische CDU" geboren, die "das Lokale" gegenüber "dem Zentrum" repräsentierte – die AKP als neoromantische Projektionsfläche. Darüber hinaus hatte der durch die Zollunion mit der EU forcierte Neoliberalisierungsprozess für nicht wenige kleine und mittlere Betriebe, die eine wichtige soziale Basis des politischen Islam bildeten, teils unerwartete ökonomische Möglichkeiten geschaffen: Sie waren in globale Produktionsnetzwerke eingebunden worden und betrachteten eine Integration in die EU nun deutlich positiver. Anfang der 2000er Jahre war der politische Islam schließlich zu einer gesellschaftlichen Kraft geworden, die sich für einen Beitritt zur EU aussprach.

Auf die schwere Wirtschaftskrise des Jahres 2001 hatte die Koalitionsregierung, die sich aus fast allen etablierten parlamentarischen Strömungen zusammensetzte, mit einem harten Sparkurs reagiert. In dieser Situation gewann 2002 als vermeintliche Alternative die neu gegründete AKP mit etwas mehr als 30 Prozent fast zwei Drittel der Mandate und konnte rasch die anderen konservativen Parteien absorbieren. Während die AKP die Strukturanpassungspolitik der internationalen Finanzinstitutionen von ihrer Vorgängerregierung übernahm, profitierte die türkische Ökonomie von den daraus resultierenden positiven Ratings und einer globalen Liquiditätsschwemme. Großangelegte Privatisierungen lockten Investitionen ins Land und sorgten für hohe Wachstumsraten. Der Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen verbesserte die ökonomischen Ratings sogar noch. Unter diesen Rahmenbedingungen platzierte die AKP durch den Umbau der Staatsapparate – vorgeblich im Dienste der EU-Reform – gezielt eigene Kader in den oberen Rängen der Macht. Obwohl das ökonomische Wachstum zur Popularität der AKP-Regierung beitrug, war der eingeschlagene Weg nicht unumstritten, denn er basierte auf der Inwertsetzung von öffentlichen Flächen und Naturressourcen, auf hohem Privatkonsum und Verschuldung sowie auf einer rasanten sunnitisch-islamisch kodierten Gentrifizierung. Gegen all diese Aspekte gab es schon lange vor der Gezi-Revolte Widerstände, die allerdings oft lokal und fragmentiert blieben.

Eine Ausnahme bildeten die "republikanischen Kundgebungen" des Jahres 2007, die vor allem Deklassierungsängste etablierter (säkularer) Mittelschichten ausdrückten. Ihren Protest gegen die AKP brachten sie in einem kemalistisch-nationalistischen Diskurs zum Ausdruck, der sich nicht scheute, die AKP als Agentin im Dienste von "US- und EU-Imperialismus" zu bezeichnen – ohne selbst eine Alternative zur Politik der AKP formulieren zu können. Auf dem Höhepunkt der Popularität des EU-Beitrittsprozesses und nach Jahren des ökonomischen Wachstums endete auch diese Kampagne, trotz eines unterstützenden Memorandums der Türkischen Streitkräfte, in einem Wahldebakel. Für die AKP bedeuteten die gescheiterten Proteste sogar einen internationalen Reputationsgewinn. Sie konnte sich als demokratische Alternative zum Kemalismus und als entscheidende Kraft der EU-Reformen präsentieren. 
Insofern in den Jahren bis etwa 2008 noch nicht alle Machtzentren innerhalb des Staates durch die AKP besetzt waren, herrschte (außerhalb der vorwiegend kurdischen Gebiete) eine relative gesellschaftliche Freiheit – was insbesondere von liberalen Kräften und der EU als Beleg für die fortschreitenden "demokratischen Reformen" gewertet wurde. Doch in Wirklichkeit waren die Reformen von Beginn an höchst selektiv gewesen. Der Umbau der Staatsapparate hatte vor allem auf jene gezielt, die sich noch nicht unter Kontrolle der herrschenden Partei befunden hatten. Und von den Resten des alten (modernistisch-kemalistischen) Entwicklungsstaates waren besonders jene Kräfte demontiert worden, die noch eine gewisse sozialdemokratische Rationalität verkörperten. Im Zuge ihrer Konsolidierung ging die AKP dazu über opponierende Kräfte gezielter zu verfolgen. Massenverhaftungen waren seit 2009 an der Tagesordnung. Obwohl offensichtlich unter fadenscheinigen Anschuldigungen durchgeführt, wurden diese Verhaftungen, gerade in Europa, zunächst als Indiz dafür gewertet, dass die AKP ihren Demokratisierungskurs fortsetzte, indem sie mit den "alten Staatseliten" aufräumte.

Dennoch blieb der internationalen Öffentlichkeit nicht verborgen, dass die Geschwindigkeit der EU-Reformen seit den späten 2000er Jahren deutlich nachgelassen hatte und mehr und mehr EU-Verhandlungskapitel suspendiert wurden. Zugleich erwähnte die türkische Regierung immer öfter östliche Alternativen zur EU-Mitgliedschaft. Obgleich die AKP in diesem Kontext auf die neue ökonomische Stärke und wachsende internationale Bedeutung der Türkei verwies, verfestigten sich de facto erste Krisentendenzen: Steigende Handelsbilanzdefizite und ein sinkender Wechselkurs ließen die Wachstumsraten in der Türkei einbrechen. Während der Akkumulationsprozess staatlicherseits durch immer größere Bauprojekte stimuliert werden sollte, zeigten sich die ökologisch-räumlichen Grenzen dieses Wachstumsmodells. Die dadurch sinkenden Verteilungsspielräume führten zu Spannungen zwischen regierungsnahen und regierungsfernen Kapitalfraktionen. So orientierten sich türkische Unternehmen verstärkt auf die mediterran-arabischen Staaten, die als Absatz- und Investitionsraum attraktiv wurden. Die AKP begann, diese Expansion mit ihrer so genannten neo-osmanischen Außenpolitik zu flankieren. Neo-Osmanismus war aber auch ein innenpolitisches Projekt: Die nationale Erzählung der türkischen Geschichte erfuhr eine Verschiebung, indem ihre republikanischen Aspekte zurückgedrängt und die osmanischen betont wurden. Im Zuge der 2011 beginnenden politischen Umbrüche in den arabisch-mediterranen Staaten nutzte die Regionalmacht Türkei ihr "osmanisches Erbe", um ihre Führungsposition als islamisches role model auszubauen. Dies erschien der EU sogar attraktiv: Sogenannte "moderat islamische" Parteien wie die AKP, denen es vor allem gelang, die "religiös-konservativen" Bevölkerungsteile in das marktliberale Entwicklungsmodell zu integrieren, stellten sowohl für die EU als auch für die USA die bevorzugten BündnispartnerInnen in der Region dar. Sowohl USA als auch EU nahmen die Bevölkerungen in der Region als vorwiegend „religiös-konservativ“ war. In der Türkei traf der Neo-Osmanismus gleichwohl schon in den Monaten vor der Gezi-Revolte auf erhebliche Widerstände, denn Neo-Osmanismus bedeutet auch forcierte Islamisierung der Gesellschaft und wachsender Druck auf die alevitische Minderheit in der Türkei. AlevitInnen erfahren täglich, das trotz formaler Rechtsgleichheit zum Beispiel die "richtige" Konfession eine immer stärkere Rolle beim Zugang zu wirtschaftlichen Möglichkeiten spielt.

Manifeste Krise des politischen Islam – aber keine fundamentale Revision der Beziehungen zur EU

Obgleich die Gezi-Revolte im Sommer 2013 ihren Ausgangspunkt im Widerstand gegen ein vergleichsweise kleines Stadtentwicklungsprojekt nahm, konnte sie sich rasch ausbreiten, da zwischen ihrem Kampf um Lebensstile und dem Widerstand gegen sunnitischen Islamismus, Autoritarismus und neo-osmanischer Außenpolitik enge Bezüge bestehen. So bedeutet beispielsweise die kapitalistische Rationalisierung des öffentlichen Raumes durch die AKP zugleich seine neo-osmanisch ausstaffierte Islamisierung: 'Ihr sollt konsumieren, aber bitte auf moralisch gebotene Weise und die richtigen Produkte.' Eine wichtige Leistung der Protestbewegung bestand darin, für selbstbestimmte Lebensweisen gekämpft und zugleich auch Alternativen zum Modernismus kemalistischer Prägung greifbar gemacht zu haben. Vor allem aber demaskierte die Revolte die bis dahin in Europa populäre Erzählung vom vermeintlichen Demokratisierungsprojekt unter Ägide der AKP. Und sie verwies auf tiefe Widersprüche innerhalb des sunnitisch-neoliberalen Projektes der AKP, das mittlerweile gerade auch jene gesellschaftlichen Gruppen gefährdet, denen der politische Islam einst entsprang (fromme kleine und mittelständische Unternehmer, prekarisierte Massen im anatolischen Kernland, religiöse urbane Unterschichten etc.). Der Versuch der AKP, das neoliberale Projekt neo-osmanisch zu kodieren, kann daher auch als Reaktion aus der Defensive gedeutet werden.

Dennoch gibt es keine fundamentale Revision der türkischen Beziehungen zu Europa, auch wenn dies an der Oberfläche so scheinen mag. Die liberal-konservative Strömung und der politische Islam unterhalten fest etablierte Beziehungen zur EU, die Gemeinsamkeiten untereinander überwiegen. Europa bleibt zentral für den neoliberalen Entwicklungspfad der Türkei. Er wurde auf juristischer Ebene durch die Zollunion mit der EU dauerhaft abgesichert. Die führenden türkischen Unternehmenskonglomerate, aber auch zahlreiche mittelgroße Betriebe werden nicht müde, ihre Interessen klar zu formulieren – pro EU – zumal die ökonomische Erschließung der arabisch-mediterranen Staaten bereits an seine Grenzen gestoßen ist. Dies liegt nicht zuletzt an den zahlreichen innerstaatlichen Spannungen und Kriegen in der Region.

Bis vor kurzem war die Türkei als "authentische Akteurin der Region" in einer Interessensgemeinschaft mit den europäischen und transatlantischen Akteuren, die in der Region nicht zu unmittelbar präsent sein wollten. Erst der Aufstieg des "Islamischen Staates" (IS) und dessen offensichtliche Unterstützung durch die türkische Regierung zeigen, dass gemeinsame Interessen allein nicht zwangsläufig zu den gewünschten Ergebnissen führen. Die militärische Vernichtung des IS wurde letztlich ohne die AKP beschlossen. Ihre Versuche die NATO Staaten zu einer gemeinsamen Militärintervention zum Sturz des Assad-Regimes zu überreden oder zumindest eine "Sicherheitszone" in Nordsyrien zu schaffen, die den Einmarsch türkischer Streitkräfte bedeuten würden, wirken hilflos. Sie dienen – wie auch die die Unterstützung des IS – dazu den autonomen kurdischen Kantonen an der türkischen Südgrenze ein Ende zu setzen. In der Türkei revoltiert dagegen die kurdische Bevölkerung. Diese lehnt eine türkische Intervention in Syrien ab und befürchtet in Kobanê und den anderen kurdischen Kantonen einen möglichen Völkermord durch den IS. Die AKP versucht die Revolte mit Härte niederzuschlagen. Der Kollaps des Neo-Osmanismus – als integratives Projekt –ist damit inzwischen Realität. Die stark institutionalisierten Beziehungen zu Europa aber sind geblieben. Trotz aller Rhetorik wurden sie von den führenden Akteuren der AKP – Erdoğan eingeschlossen – auch nie ernsthaft bezweifelt. Das hieße nämlich für die AKP nicht nur ihr Bündnis mit den Liberal-Konservativen zu brechen, sondern letztlich ihr sunnitisch-neoliberales Projekt in Frage zu stellen.

Dies gilt umgekehrt auch für die EU: In ihrem Fortschrittsbericht von Oktober 2013 stärkte sie der AKP-Regierung den Rücken, indem sie die brutale Niederschlagung der Revolte durch türkische Sicherheitskräfte und privat organisierte Milizen herunterspielte und „die positive Agenda“ der Türkei in puncto Rechtsstaat und Grundrechte lobte. Erst im Nachklang der vergangenen Dezember bekannt gewordenen Korruptionsaffäre, äußerten hochrangige Vertreter der Union deutliche Kritik am Zustand der Gewaltenteilung im Land und forderten rechtsstaatliche Prinzipien ein – auch der aktuelle Fortschrittsbericht fällt kritischer aus, als der des letzten Jahres. Während die Gezi-Revolte also als eine innere Angelegenheit der Türkei betrachtet wurde, hatte die Korruptionsaffäre die europäischen Eliten offenkundig alarmiert. Das liberal-konservative-islamistische Bündnis – schien für einen Moment in Gefahr. Doch für die FreundInnen „moderat-islamischer“ Regierungen besteht Hoffnung: Selbst ein möglicher Kollaps der AKP muss nicht das Ende des Bündnisses zwischen Liberalen, Konservativen und Islamisten bedeuten: Die Republikanische Volkspartei CHP signalisiert inzwischen ihre Bereitschaft sich selbst zu einer Art "moderater" AKP zu transformieren und so eine neue Kraft in diesem historisch weit zurückreichenden Bündnis mit fest etablierten Beziehungen zur EU zu werden.