Von Axel
Gehring
Vor der Juni-Revolte im Jahr 2013 galt die AKP in Europa fast als die türkische Version der CDU. Selbst nach Niederschlagung der Revolte hatte die EU eine ambivalente Beziehung zur Türkei. Doch wendet sich die bisher pro-europäische türkische Regierung – wie einige Indizien dies scheinbar zeigen – von der EU ab und nähert sich dem Osten? Oder führt der Weg zum Westen quer durch den Osten? Es gilt zu verstehen, dass der politische Islam nicht per se in einem Widerspruch zur EU steht, sondern lang tradierte gemeinsame Interessen vorherrschen.
Vor der Juni-Revolte im Jahr 2013 galt die AKP in Europa fast als die türkische Version der CDU. Selbst nach Niederschlagung der Revolte hatte die EU eine ambivalente Beziehung zur Türkei. Doch wendet sich die bisher pro-europäische türkische Regierung – wie einige Indizien dies scheinbar zeigen – von der EU ab und nähert sich dem Osten? Oder führt der Weg zum Westen quer durch den Osten? Es gilt zu verstehen, dass der politische Islam nicht per se in einem Widerspruch zur EU steht, sondern lang tradierte gemeinsame Interessen vorherrschen.
Die türkische Juni-Revolte, die
Ende Mai 2013 im Istanbuler Gezi Park ihren Ausgangspunkt genommen hatte, kann
auch als ein Ereignis betrachtet werden, das die Erzählung vom
Demokratisierungsprojekt unter der Ägide einer
"islamisch-konservativen" AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi - Partei
für Gerechtigkeit und Entwicklung) beendete. Nach der lang anhaltenden
freundlichen Berichterstattung in der EU über das "Modell Türkei"
markiert die Revolte einen diskursiven Bruch. Wurde bis weit in die 2010er
Jahre hinein die Leistung der regierenden AKP (mit Kritik an Einzelpunkten)
gewürdigt, so hat sich das Bild nun gewandelt: Längst wird nicht mehr nur über
ein „ins Stocken geratenes EU-Projekt“ berichtet, sondern auch die Frage nach
dem Charakter des Regimes gestellt – und beantwortet: Benommen vom
Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre befinde sich die Türkei unter einer
immer autoritärer regierenden AKP auf dem Weg in Richtung "Osten".
Auch die türkische Unterstützung des Islamischen Staates (IS), der noch immer
die syrisch-kurdische Stadt Kobanê belagert, scheint in dieses Bild zu passen.
Doch bis vor nicht allzu langer Zeit würdigten dieselben Medien die AKP für
ihre Politik der "Annäherung an die EU" sowie ihre "Reformen bei
Demokratie und Menschenrechten" und waren fasziniert vom
"Wirtschaftswunder am Bosporus" und "den historischen Schritten
der AKP bei der Lösung der kurdischen Frage". Trotz ihrer Kontinuität zur
autoritär neoliberalen Politik der Vorgänger-Regierungen wurde die AKP als
radikal neue Alternative zu den "alten und korrupten Parteien", als
Ausdruck der "Subalternen Anatoliens gegen westtürkische Dominanz"
und als "konservativ-demokratische" Antwort auf einen
"autoritären und elitären Laizismus" wahrgenommen. So galt ihre
Politik "religiöser und kultureller Pluralität" verpflichtet.
Obgleich Teil einer der Selbstdarstellungsstrategie der Partei, stieß diese
Wahrnehmung auf breite Resonanz – gerade unter westlichen Wissensschaffenden.
Die AKP schien mit dem autoritären Erbe des Kemalismus und einem Komplex aus
Militär und Staatsbürokratie gebrochen sowie einen Sprung Richtung Europa
gemacht zu haben. Erst die türkische Revolte des Sommers 2013 sollte in Europa
den Blick auf die Agenda der AKP ändern: Die Errichtung eines Einkaufszentrums
in Gestalt einer alten osmanischen Kaserne auf einer öffentlichen Parkfläche
symbolisierte wie kaum etwas anderes die von der AKP forcierte Politik einer
islamistischen Kodierung der gesellschaftlichen Reproduktion, die sich
ihrerseits den Paradigmen einer neoliberalen Rationalität zu beugen hatte. Und
brutale Repression gegen die Protestierenden die autoritäre Praxis der
AKP-Regierung mehr als bloß symbolisch offenlegte.
Doch hat es ihn wirklich
gegeben, den Schwenk der AKP Richtung "Osten"? Oder haben vielmehr die
haben -Revolte und die türkische Unterstützung für den IS dafür gesorgt, dass
weite Teile der westlichen Öffentlichkeit die gleichen Politiken, die sie bis
vor kurzem als Schritte in Richtung Europa gedeutet hatten, nunmehr als eine
Form autoritärer Islamisierung und Abkehr von Europa wahrnehmen? Eine Antwort
auf diese Fragen muss zunächst analysieren, welche Bedeutung Europa
beziehungsweise die EU für die politischen Kräfte in der Türkei hat, vor allem
für das islamistisch-liberal-konservative Bündnis unter der AKP. Dies geschieht
im Folgenden anhand einer kleinen geschichtlichen Exkursion...
Das Erbe der
Liberal-Konservativen: Mit Europa gegen den kemalistischen Modernismus
Die Gründung des
türkischen Nationalstaates war von einem heterogenen Bündnis aus
Intellektuellen, Offizieren, BäuerInnen und einer schwachen türkischen
Bourgeoisie betrieben worden. Nach Massaker und Vertreibungen großer Teile der
armenischen und griechischen Bevölkerung hatten sie während des 1. Weltkrieges
einen Elitenwandel forciert, der durch die militärische Niederlage des
Osmanischen Reiches 1918 wieder zur Disposition gestellt wurde. Als Reaktion
darauf wurde der von 1919 bis 1922 währende „Unabhängigkeitskrieg“ geführt, mit
dem Ziel, eine moderne türkische Nation und einen bürgerlichen Staat zu
schaffen. Die Führung des Krieges oblag wesentlich dem Militär und Teilen der
Bürokratie. Im darauffolgenden Prozess des nation building nahmen sie eine
exponierte Rolle ein. Obwohl dieses Projekt insofern europäisch war, als
zahlreiche Institutionen und ganze Gesetzbücher direkt aus europäischen Staaten
übernommen wurden, war es zugleich eine "Europäisierung trotz Europa": Die alten
osmanischen Eliten wurden als abhängig von Europa wahrgenommen. Dies wiederum
wurde als wichtige Ursache für das Scheitern der Modernisierungsbestrebungen
des Reiches gewertet. Die nun etablierten kapitalistischen Beziehungen sollten
die Türkei in die Moderne führen und auf das "Niveau der gegenwärtigen
Zivilisation" heben. Moderne
wurde dabei selbstredend als Entfaltung kapitalistischer Beziehungen verstanden
und forciert. Zugleich negierte und unterdrückte dieser Modernismus
Klassenunterschiede, was nicht
nur die Lohnarbeitenden zu spüren bekamen – jede Form ihrer eigenständigen
Organisation und selbstverständlich auch Streiks waren verboten – sondern nach
der 1929er Weltwirtschaftskrise auch die Bourgeoisie: Nationalen Entwicklungszielen
wurde unbedingt Vorrang gegeben, wobei die Definition dieser Ziele wesentlich
in den Händen der kemalistischen Einheitspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi - Republikanische
Volkspartei) lag.
Die
Entfernung der alten osmanischen Eliten und die repressive Marginalisierung der
kurdischen Minderheit waren in der frühen Republik eng mit der Säkularisierung von
Staat, Rechts- und Erziehungswesen durch die ehemaligen Militärs verknüpft. Mit
der Schaffung zentraler Institutionen einer bürgerlich-liberalen Staatlichkeit
durch die Bürokratie – und den in ihr präsenten ehemaligen Militärs – wurde der
Prozess kapitalistischer Entwicklung und Rationalisierung weiter
vorangetrieben.
Doch die Rolle der
staatlichen Bürokratie sollte sich rasch relativieren. In den späten 1930er
Jahren verlangten große Teile des Bürgertums nach mehr Autonomie von den
Staatsapparaten. So bildete sich schon in der Gründungsphase der Republik eine
marktliberale und kulturell konservative Strömung. Sie versuchte dem
kemalistischen Modernismus einen konservativen Populismus entgegenzusetzen. Mit
zunehmendem Erfolg organisierte sie ein Bündnis zwischen den alten osmanischen
Eliten und der in kapitalistische Markbeziehungen eingebundenen Landbevölkerung
unter Führung einer wachsenden Unternehmer-Klasse, die sich vom Staat
bevormundet fühlte. Diese Strömung betrachtete sich als legitime Vertreterin
der "einfachen Bevölkerung" gegenüber den modernistischen
"bürokratischen Eliten" des Landes. Seit 1946 parteiförmig
organisiert, gelang es ihr 1950 erstmals in Gestalt der DP
(Demokrat Parti - Demokratische Partei) die Regierung zu stellen. 1959 stellte
sie den
Antrag auf Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).
Damit wollte sie nicht nur einen vereinfachten Marktzugang nach Europa
erreichen, sondern auch einen modernistischen Entwicklungsstaat kemalistischer
Prägung verhindern.
So war die türkische Auseinandersetzung
über Europa ein Widerstreit zweier Strömungen, wobei sich ausgerechnet die
konservative als pro-europäische erwies: Während die kemalistischen Kräfte eine
national ausgerichtete Variante kapitalistischer Entwicklung und kultureller
Modernisierung bevorzugten, forcierten die liberal-konservativen Kräfte ein
Projekt der Annäherung an Europa. Widerstand dagegen leisteten nicht nur
kemalistische, sondern auch linke Kräfte – aus Sorge um die sozialen Folgen
ökonomischer Liberalisierung, aber auch aus Angst vor dem Verlust
modernistischer Errungenschaften, die sie durch ein Bündnis der
Konservativ-Liberalen mit "dem Imperialismus" (vulgo EWG) bedroht
sahen. So war die seit der 1960er Jahren erstarkende türkische Linke eine
ausgeprägt nationalistische. Und sowohl die europäischen als auch die
US-amerikanischen Eliten betrachteten nicht nur sie, sondern auch die
modernistisch-kemalistische Strömung in der Türkei mit großer Skepsis.
Aufstieg des
politischen Islam und Transformation seines Europabegriffs
Obwohl das
liberal-konservative Bündnis seither ökonomisch wie politisch die Oberhand
behielt, auch durch zeitweilige linke Konjunkturen in den 1960er und 1970er
Jahren nicht durchbrochen werden konnte, gewann eine Erzählung mehr und mehr an
Bedeutung, die sich ausgerechnet oppositionell gab - die der Dominanz eines
modernistisch-kemalistischen Zentrums über die Peripherie. So wird der
Militärputsch vom 12. September 1980 noch heute als Aktion kemalistischer
Eliten gelesen, obgleich wichtige Vertreter des liberal-konservativen
Bündnisses um die Intervention gebeten hatten, fest in den Staatsapparaten
verankert waren und auch während und nach der Junta in zahlreichen
Schlüsselpositionen weiter regierten. Vielmehr war dieser Putsch ganz im
Dienste des konservativen Establishments. Er ermöglichte vor allem neoliberale
Reformen auf die Agenda zu setzen, gegen die sich bis dahin gesellschaftlicher
Widerstand geregt hatte. Den brauchten die Herrschenden zunächst nicht mehr zu
fürchten. Die nun eingeleiteten Neoliberalisierungsmaßnahmen waren komplementär
zum europäischen Binnenmarkt. 1987 stellte die konservative Regierung Antrag
auf Mitgliedschaft in der EG. 1996
konnte schließlich die Zollunion mit der EU realisiert werden.
Eine Herausforderung für
das Europaprojekt stellte in dieser Zeit vor allem der in der RP (Refah Partisi
- Wohlfahrtspartei) organisierte politische Islam dar. Er vertrat und bündelte
bereits seit den späten 1960er Jahren jene gesellschaftlichen Gruppen, die zu
den Verlierern des populistischen Kapitalismus vor 1980 und des neoliberalen
Kapitalismus nach 1980 gehörten: proletarisierte Massen sowie kleinere und
mittelständische Kapitalisten, die sich dem ökonomischen Modernisierungsdruck
nicht gewachsen fühlten – ähnlich wie vor 1980 das kemalistische und linke
Spektrum. Sie traten auch für eine stärkere Protektion der türkischen Ökonomie
ein und teilten den ausgeprägten Nationalismus von Linken und Kemalisten, den
sie unter Bezugnahme auf die "verlorene osmanische Größe" allerdings
islamisch-sunnitisch definierten. Dazu gehörten auch der Kampf gegen
"kulturelle Europäisierung" und der Versuch einer Hinwendung zu den
islamischen Nachbarstaaten, die als Exportmärkte an Bedeutung gewonnen hatten.
Ihre Koalitionsregierung scheiterte 1997 nach weniger als zwei Jahren. Gegen
die Politik der kulturellen Islamisierung formierte sich ein breites Bündnis,
das von der gewerkschaftlichen bis zur feministischen Linken und den
wichtigsten ökonomischen Eliten reichte. Ein Memorandum der Streitkräfte erzwang
schließlich den Abtritt der ersten islamistischen Regierung in der Türkei.
Diese Erfahrung wirkte
katalytisch auf die weitere Entwicklung des politischen Islam in der Türkei und
veränderte auch dessen Verhältnis zu Europa: EU-Reformen nach den Kriterien von
Kopenhagen boten auf einmal die Perspektive zahlreiche
Staatsapparate, darunter Justiz und Militär, umzubauen und so eine Wiederholung
der Erfahrung von 1997 zu vermeiden. Dass die Erzählung von der Dominanz eines
modernistisch-kemalistischen Zentrums auch unter den Intellektuellen Europas
verbreitet war, kam dem politischen Islam in der Türkei zupass und wurde teils
strategisch genutzt. An die Stelle der "gerechten Ordnung" – eines
islamistisch-kommunitaristischen Gesellschaftsentwurfes – trat bei der sich nun
formierenden AKP die "Konservative Demokratie", präsentiert als
Alternative zum bürokratischen Kemalismus. Damit war es dem politischen Islam
gelungen, seine (weiterhin islamistische) Agenda als einen Europa gegenüber
aufgeschlossenen, gemäßigten Konservatismus darzustellen. Aus Sicht
konservativer und liberaler Intellektueller in Europa war nun die
"türkische CDU" geboren, die "das Lokale" gegenüber
"dem Zentrum" repräsentierte – die AKP als neoromantische
Projektionsfläche. Darüber hinaus hatte der durch die Zollunion mit der EU
forcierte Neoliberalisierungsprozess für nicht wenige kleine und mittlere
Betriebe, die eine wichtige soziale Basis des politischen Islam bildeten, teils
unerwartete ökonomische Möglichkeiten geschaffen: Sie waren in globale
Produktionsnetzwerke eingebunden worden und betrachteten eine Integration in
die EU nun deutlich positiver. Anfang der 2000er Jahre war der politische Islam
schließlich zu einer gesellschaftlichen Kraft geworden, die sich für einen
Beitritt zur EU aussprach.
Auf die schwere
Wirtschaftskrise des Jahres 2001 hatte die Koalitionsregierung, die sich aus
fast allen etablierten parlamentarischen Strömungen zusammensetzte, mit einem
harten Sparkurs reagiert. In dieser Situation gewann 2002 als vermeintliche Alternative
die neu gegründete AKP mit etwas mehr als 30 Prozent fast zwei Drittel der
Mandate und konnte rasch die anderen konservativen Parteien absorbieren.
Während die AKP die Strukturanpassungspolitik der internationalen
Finanzinstitutionen von ihrer Vorgängerregierung übernahm, profitierte die
türkische Ökonomie von den daraus resultierenden positiven Ratings und einer globalen
Liquiditätsschwemme. Großangelegte Privatisierungen lockten Investitionen ins
Land und sorgten für hohe Wachstumsraten. Der Beginn der
EU-Beitrittsverhandlungen verbesserte die ökonomischen Ratings sogar noch. Unter diesen
Rahmenbedingungen platzierte die AKP durch den Umbau der Staatsapparate –
vorgeblich im Dienste der EU-Reform – gezielt eigene Kader in den oberen Rängen
der Macht. Obwohl das ökonomische Wachstum zur Popularität der AKP-Regierung
beitrug, war der eingeschlagene Weg nicht unumstritten, denn er basierte auf
der Inwertsetzung von öffentlichen Flächen und Naturressourcen, auf hohem
Privatkonsum und Verschuldung sowie auf einer rasanten sunnitisch-islamisch
kodierten Gentrifizierung. Gegen all diese Aspekte gab es schon lange vor der
Gezi-Revolte Widerstände, die allerdings oft lokal und fragmentiert blieben.
Eine Ausnahme bildeten
die "republikanischen Kundgebungen" des Jahres 2007, die vor allem
Deklassierungsängste etablierter (säkularer) Mittelschichten ausdrückten. Ihren
Protest gegen die AKP brachten sie in einem kemalistisch-nationalistischen
Diskurs zum Ausdruck, der sich nicht scheute, die AKP als Agentin im Dienste
von "US- und EU-Imperialismus" zu bezeichnen – ohne selbst eine
Alternative zur Politik der AKP formulieren zu können. Auf dem Höhepunkt der
Popularität des EU-Beitrittsprozesses und nach Jahren des ökonomischen
Wachstums endete auch diese Kampagne, trotz eines unterstützenden Memorandums
der Türkischen Streitkräfte, in einem Wahldebakel. Für die AKP bedeuteten die
gescheiterten Proteste sogar einen internationalen Reputationsgewinn. Sie
konnte sich als demokratische Alternative zum Kemalismus und als entscheidende
Kraft der EU-Reformen präsentieren.
Insofern in den Jahren
bis etwa 2008 noch nicht alle Machtzentren innerhalb des Staates durch die AKP
besetzt waren, herrschte (außerhalb der vorwiegend kurdischen Gebiete) eine
relative gesellschaftliche Freiheit – was insbesondere von liberalen Kräften
und der EU als Beleg für die fortschreitenden "demokratischen
Reformen" gewertet wurde. Doch in Wirklichkeit waren die Reformen von
Beginn an höchst selektiv gewesen. Der Umbau der Staatsapparate hatte vor allem
auf jene gezielt, die sich noch nicht unter Kontrolle der herrschenden Partei
befunden hatten. Und von den Resten des alten (modernistisch-kemalistischen)
Entwicklungsstaates waren besonders jene Kräfte demontiert worden, die noch
eine gewisse sozialdemokratische Rationalität verkörperten. Im Zuge ihrer
Konsolidierung ging die AKP dazu über opponierende Kräfte gezielter zu
verfolgen. Massenverhaftungen waren seit 2009 an der Tagesordnung. Obwohl
offensichtlich unter fadenscheinigen Anschuldigungen durchgeführt, wurden diese
Verhaftungen, gerade in Europa, zunächst als Indiz dafür gewertet, dass die AKP
ihren Demokratisierungskurs fortsetzte, indem sie mit den "alten
Staatseliten" aufräumte.
Dennoch blieb der
internationalen Öffentlichkeit nicht verborgen, dass die Geschwindigkeit der
EU-Reformen seit den späten 2000er Jahren deutlich nachgelassen hatte und mehr
und mehr EU-Verhandlungskapitel suspendiert wurden. Zugleich erwähnte die
türkische Regierung immer öfter östliche Alternativen zur EU-Mitgliedschaft.
Obgleich die AKP in diesem Kontext auf die neue ökonomische Stärke und
wachsende internationale Bedeutung der Türkei verwies, verfestigten sich de
facto erste Krisentendenzen: Steigende Handelsbilanzdefizite und ein sinkender
Wechselkurs ließen die Wachstumsraten in der Türkei einbrechen. Während der
Akkumulationsprozess staatlicherseits durch immer größere Bauprojekte
stimuliert werden sollte, zeigten sich die ökologisch-räumlichen Grenzen dieses
Wachstumsmodells. Die dadurch sinkenden Verteilungsspielräume führten zu
Spannungen zwischen regierungsnahen und regierungsfernen Kapitalfraktionen. So
orientierten sich türkische Unternehmen verstärkt auf die
mediterran-arabischen Staaten, die als Absatz- und Investitionsraum attraktiv
wurden. Die AKP begann, diese Expansion mit ihrer so genannten neo-osmanischen
Außenpolitik zu flankieren. Neo-Osmanismus war aber auch ein innenpolitisches
Projekt: Die nationale Erzählung der türkischen Geschichte erfuhr eine
Verschiebung, indem ihre republikanischen Aspekte zurückgedrängt und die
osmanischen betont wurden. Im Zuge der 2011 beginnenden politischen Umbrüche in
den arabisch-mediterranen Staaten nutzte die Regionalmacht Türkei ihr "osmanisches
Erbe", um ihre Führungsposition als islamisches role model auszubauen.
Dies erschien der
EU sogar attraktiv: Sogenannte "moderat
islamische" Parteien wie die AKP, denen es vor allem gelang, die
"religiös-konservativen" Bevölkerungsteile in das marktliberale
Entwicklungsmodell zu integrieren, stellten sowohl für die EU als auch für die
USA die bevorzugten BündnispartnerInnen in der Region dar. Sowohl USA als auch
EU nahmen die Bevölkerungen in der Region als vorwiegend „religiös-konservativ“
war. In der Türkei traf der Neo-Osmanismus gleichwohl schon in den Monaten vor
der Gezi-Revolte auf erhebliche Widerstände, denn Neo-Osmanismus bedeutet auch
forcierte Islamisierung der Gesellschaft und wachsender Druck auf die
alevitische Minderheit in der Türkei. AlevitInnen erfahren täglich, das trotz
formaler Rechtsgleichheit zum Beispiel die "richtige" Konfession eine
immer stärkere Rolle beim Zugang zu wirtschaftlichen Möglichkeiten spielt.
Manifeste Krise des
politischen Islam – aber keine fundamentale Revision der Beziehungen zur EU
Obgleich die Gezi-Revolte im
Sommer 2013 ihren Ausgangspunkt im Widerstand gegen ein vergleichsweise kleines
Stadtentwicklungsprojekt nahm, konnte sie sich rasch ausbreiten, da zwischen
ihrem Kampf um Lebensstile und dem Widerstand gegen sunnitischen
Islamismus, Autoritarismus und neo-osmanischer Außenpolitik enge Bezüge bestehen. So bedeutet
beispielsweise die kapitalistische Rationalisierung des öffentlichen Raumes
durch die AKP zugleich seine neo-osmanisch ausstaffierte Islamisierung: 'Ihr
sollt konsumieren, aber bitte auf moralisch gebotene Weise und die richtigen
Produkte.' Eine wichtige Leistung der Protestbewegung bestand darin, für
selbstbestimmte Lebensweisen gekämpft und zugleich auch Alternativen zum
Modernismus kemalistischer Prägung greifbar gemacht zu haben. Vor allem aber
demaskierte die Revolte die bis dahin in Europa populäre Erzählung vom
vermeintlichen Demokratisierungsprojekt unter Ägide der AKP. Und sie verwies auf tiefe Widersprüche innerhalb des
sunnitisch-neoliberalen Projektes der AKP, das mittlerweile gerade auch jene gesellschaftlichen
Gruppen gefährdet, denen der politische Islam einst entsprang (fromme kleine
und mittelständische Unternehmer, prekarisierte Massen im anatolischen
Kernland, religiöse urbane Unterschichten etc.). Der Versuch der AKP, das
neoliberale Projekt neo-osmanisch zu kodieren, kann daher auch als Reaktion aus
der Defensive gedeutet werden.
Dennoch gibt es
keine fundamentale Revision der türkischen Beziehungen zu Europa, auch wenn
dies an der Oberfläche so scheinen mag. Die
liberal-konservative Strömung und der politische Islam unterhalten fest
etablierte Beziehungen zur EU, die Gemeinsamkeiten untereinander überwiegen.
Europa bleibt zentral für den neoliberalen Entwicklungspfad der Türkei. Er
wurde auf juristischer Ebene durch die Zollunion mit der EU dauerhaft
abgesichert. Die führenden türkischen Unternehmenskonglomerate, aber auch
zahlreiche mittelgroße Betriebe werden nicht müde, ihre Interessen
klar zu formulieren – pro EU – zumal die ökonomische Erschließung der
arabisch-mediterranen Staaten bereits an seine Grenzen gestoßen ist. Dies liegt
nicht zuletzt an den zahlreichen innerstaatlichen Spannungen und Kriegen in der
Region.
Bis vor kurzem war
die Türkei als "authentische Akteurin der Region" in einer
Interessensgemeinschaft mit den europäischen und transatlantischen Akteuren,
die in der Region nicht zu unmittelbar präsent sein wollten. Erst der Aufstieg
des "Islamischen Staates" (IS) und dessen offensichtliche
Unterstützung durch die türkische Regierung zeigen, dass gemeinsame Interessen
allein nicht zwangsläufig zu den gewünschten Ergebnissen führen. Die
militärische Vernichtung des IS wurde letztlich ohne die AKP beschlossen. Ihre Versuche die NATO
Staaten zu einer gemeinsamen Militärintervention zum Sturz des Assad-Regimes zu
überreden oder zumindest eine "Sicherheitszone" in Nordsyrien zu
schaffen, die den Einmarsch türkischer Streitkräfte bedeuten würden, wirken
hilflos. Sie dienen – wie auch die die Unterstützung des IS – dazu den
autonomen kurdischen Kantonen an der türkischen Südgrenze ein Ende zu setzen.
In der Türkei revoltiert dagegen die kurdische Bevölkerung. Diese lehnt eine
türkische Intervention in Syrien ab und befürchtet in Kobanê und den anderen
kurdischen Kantonen einen möglichen Völkermord durch den IS. Die AKP versucht
die Revolte mit Härte niederzuschlagen. Der Kollaps des Neo-Osmanismus – als
integratives Projekt –ist damit inzwischen Realität. Die stark
institutionalisierten Beziehungen zu Europa aber sind geblieben. Trotz aller Rhetorik wurden sie
von den führenden Akteuren der AKP – Erdoğan eingeschlossen – auch nie
ernsthaft bezweifelt. Das hieße
nämlich für die AKP nicht nur
ihr Bündnis mit den Liberal-Konservativen zu brechen, sondern letztlich ihr
sunnitisch-neoliberales Projekt in Frage zu stellen.
Dies gilt umgekehrt
auch für die EU: In ihrem Fortschrittsbericht von Oktober 2013 stärkte sie der
AKP-Regierung den Rücken, indem sie die brutale Niederschlagung der Revolte
durch türkische Sicherheitskräfte und privat organisierte Milizen
herunterspielte und „die positive Agenda“ der Türkei in puncto Rechtsstaat und
Grundrechte lobte. Erst im Nachklang der vergangenen Dezember bekannt gewordenen Korruptionsaffäre, äußerten hochrangige
Vertreter der Union deutliche Kritik am Zustand der Gewaltenteilung im Land und
forderten rechtsstaatliche Prinzipien ein – auch der aktuelle
Fortschrittsbericht fällt kritischer aus, als der des letzten Jahres. Während
die Gezi-Revolte also als eine innere Angelegenheit der Türkei betrachtet
wurde, hatte die Korruptionsaffäre die europäischen Eliten offenkundig
alarmiert. Das liberal-konservative-islamistische Bündnis – schien für einen
Moment in Gefahr. Doch für die FreundInnen „moderat-islamischer“ Regierungen
besteht Hoffnung: Selbst ein möglicher Kollaps der AKP muss nicht das Ende des
Bündnisses zwischen Liberalen, Konservativen und Islamisten bedeuten: Die Republikanische
Volkspartei CHP signalisiert inzwischen ihre Bereitschaft
sich
selbst zu einer Art "moderater" AKP zu transformieren und so eine
neue Kraft in diesem historisch weit zurückreichenden Bündnis mit fest
etablierten Beziehungen zur EU zu werden.