Die Bekämpfung von ISIS durch eine US-amerikanisch angeführte Koalition hat die türkische Innenpolitik nach den Präsidentschaftswahlen in den Hintergrund treten lassen. Indes sind die innenpolitischen Konfliktlinien parallel zum expansionistischen Bestreben der türkischen Regierung eng mit der Konfessionalisierung und Militarisierung in der gesamten nahöstlichen Region verknüpft. Wohin
bewegt sich die Türkei unter der AKP, wo liegen die treibenden Dynamiken? Und wie
positioniert sich die politische Opposition?
Aus den Präsidentschaftswahlen ging der amtierende
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits in der ersten Runde als Sieger hervor.
Unmittelbar nach seiner Vereidigung wurde unter der Führung des bisherigen
Außenministers Ahmet Davutoğlu ein neues Kabinett gebildet. Als Chefideologe
des Neo-Osmanismus proklamiert dieser die Schließung der hundertjährigen
Klammer. Gemeint ist die Wiedergewinnung des mit dem Ersten Weltkrieg verlorenen
Einflusses auf die osmanischen Protektorate im Nahen Osten und in Nord-Afrika. Wohin
bewegt sich die Türkei unter der AKP, wo liegen die treibenden Dynamiken? Und wie
positioniert sich die politische Opposition gegenüber dem expansionistischen
Bestreben?
Die
hundertjährige Klammer
Als der politische Islam unter der Führung der AKP
im Jahr 2002 seine erste Regierung bildete, wurde von einem glücklichen
Zusammenspiel innerer und äußerer Dynamiken gesprochen. Demokratische Reformen
im Inland schienen Hand in Hand mit der Annäherung an die Europäische Union und
dem Aufstieg zum Modell im Nahen Osten zu verlaufen. Die als Demokratisierung ausgegebene
Bekämpfung oppositioneller Machtzentren in den Justizapparaten und der Armee überdeckte
jedoch, dass die AKP in erster Linie einen Austausch des bürokratischen
Personals organisierte, während sie das institutionelle Setting beibehielt. Parallel
errichtete sie im Namen der Terrorismusbekämpfung das Fundament für die
anschließende Massenverfolgung gesellschaftlicher Opposition. Unterdessen wurde
der konservative Islam Schritt für Schritt zum neuen kulturellen Leitbild
aufgebaut, das sich heute wie ein Panzer um die kapitalistische
Expansionsdynamik neoliberaler Prägung legt.
Tragische Folgen hatte diese Entwicklung für die säkulare
und republikanische Bevölkerung, für die Linke und - durch die desaströsen
„Arbeitsunfälle“ immer wieder offengelegt - für die große Masse der Werktätigen,
sowie für Frauen, die den verschiedenen Facetten von Gewalt unter dem Druck des
konservativen Frauenbilds ausgesetzt sind. Die als Demokratisierung begrüßte
innere Dynamik bedeutete in Wahrheit nichts anderes als die Re-Formierung der Gesellschaft
unter der Kontrolle des politischen Islam. Mit dem Abrücken von der politischen
Integration in die EU und der Pleite des unter US-amerikanischer Führung
entwickelten Leitbilds eines „moderaten Islam“ für die Region hat sich die
lange Zeit hoch gehaltene äußere Dynamik ebenfalls als Reinfall entpuppt.
Seit einiger Zeit ist nun die Rede von einem neuen
Zusammenspiel innerer und äußerer Dynamiken. Erdoğans Präsidentschaft wird als
Fanal der inneren Dynamik gedeutet. Die Einheit von Staat und Volk, so die in
islamistischen Medien verbreitete Vorstellung, sei auf allen Ebenen
wiederhergestellt worden. Das gläubige Volk habe sein gläubiges Oberhaupt
gefunden. Diese über kulturelle Werte imaginierte Identität zwischen dem
Herrscher und seinem Volk, im konservativ-liberalen Lager auch als „Volksnähe“
oder „Authentizität“ idealisiert, bildet die ideologische Grundlage für das
Präsidialsystem, das der AKP vorschwebt.
Der ausgeschiedene Staatspräsident und Mitbegründer
der AKP, Abdullah Gül, stand noch für einen Ausgleich zwischen verschiedenen
Kapitalfraktionen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Bei der Bildung
des neuen Kabinetts wurde er trotz expliziter Interessenbekundung übergangen,
gar ausgeschlossen. Offensichtlich neigt sich das kurze Zusammenspiel zwischen
parlamentarischer Demokratie und politischem Islam seinem Ende zu. Das Vorhaben
einer präsidentiellen Demokratie ist allerdings nicht förmlich entschieden. Eine
parlamentarische Mehrheit für eine neue Verfassung kommt weiterhin nicht zustande.
Auch die Kapitalfraktionen sind in dieser Angelegenheit gespalten. Eine ganze
Reihe von Unternehmerverbänden signalisiert Unterstützung, der größte
Unternehmerverband TÜSIAD äußert sich jedoch skeptisch. Folglich ist mit
weiterem Widerstand zu rechnen.
Doch auch ohne einen Systemwechsel ist die Tendenz
zur Zentralisierung politischer Macht, zur Aufhebung der Gewaltenteilung und zu
ausnahmestaatlichen Regelungen deutlich. Zur Disposition stehen zusammen mit
der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung inzwischen auch die
republikanische Verfassung mit staatsbürgerlichen Rechten, im Besonderen
Frauen- und Arbeiterrechte. In der islamistischen Presse werden sie als eine
Irrung der vergangenen hundert Jahre thematisiert, da sie die Türkei geschwächt
hätten.
Ideologisch verbrämt wird die innere Dynamik auch
als „islamische Revolution“ oder als „hundertjährige Säuberung“. In der
Denktradition Samuel Huntingtons stellt Davutoğlu der „westlichen Zivilisation“
die „islamische Zivilisation“ gegenüber. Deren Träger soll eine neue islamische
Elite sein. Unterstrichen wird dieses Ansinnen durch eine Vielzahl an
Maßnahmen, allen voran die Konfessionalisierung von Erziehung und Bildung. Ein
Beispiel mag den erreichten Stand illustrieren: Die Zahl der Gymnasien mit
religiösem Schwerpunkt, die eine intensive Ausbildung in Theorie und Praxis des
sunnitischen Islam und die arabische Sprache vermitteln, hat sich in zehn
Jahren verdoppelt. Die aktuell knapp 700.000 eingeschriebenen GymnasiastInnen
an diesen Schulen bedeuten eine Steigerung um 50% im Vergleich zum Vorjahr.
Hundert Jahre, so der neue Ministerpräsident
Davutoğlu, dauerte auch die gegenseitige Isolation der „Völker“ nach dem
Zusammenbruch des Osmanischen Reichs. Die „Neue Türkei“, so die Sprachregelung,
werde diese Isolation durchbrechen und zusammenführen, was zusammen gehöre. Hinter
dieser „Zusammenführung“ stehen handfeste Interessen. Angestrebt wird die
Kontrolle über Handelswege sowie Teilhabe an den Erdöl- und Erdgasfeldern in
der unmittelbaren Nachbarschaft, die sich in der vergangenen Dekade zu einer
„post-modernen“ Kolonie der Türkei entwickelte. Der Warenexport in die Region,
deren Produktivkräfte weit unterlegen daher leicht zu dominieren sind, stieg
ebenso sprunghaft an wie der Kapitalexport. Zusammengenommen sind dies
ausreichend Gründe für die energiehungrige Türkei, die Region als ihre
Einflusssphäre zu betrachten.
Von einem Demokratie-Modell ist keine Rede mehr aber
die außenpolitischen Ambitionen sind geblieben. Die Destabilisierung von Staaten
in der Region wird als neue äußere Dynamik begrüßt, die es zu nutzen gelte. Islamistische
Bewegungen werden von den neo-osmanischen Strategen bei der Verfolgung ihrer
Ziele als Bündnispartner betrachtet. Wie inzwischen auch in den etablierten
Medien berichtet wird, leistet die türkische Regierung der kriegerischen
Radikalisierung in der Region Vorschub, indem sie militante IslamistInnen zum
Sturz der syrischen Regierung unterstützt. Hinzu kommt das Ziel der Bekämpfung
des syrisch-kurdischen Autonomiemodells Rojava. Allerdings geht dies mitnichten
auf eine abstrakte Kurdenfeindschaft zurück. Vielmehr entzieht sich Rojava dem
expansionistischen Zugriff der Türkei. Die Destabilisierung des Irak durch Unterstützung
der irakisch-kurdischen Autonomiebehörde gegenüber der Zentralregierung in
Bagdad bildet dagegen seit Jahren eine Konstante türkischer Außenpolitik.
Die komplexe Gemengelage am Kreuzungspunkt
regionaler und globaler Interessen birgt allerdings das Potential, die
neo-osmanische Führungsstrategie genauso als Hirngespinst aussehen zu lassen,
wie die Demokratisierung durch Annäherung an die EU. In Nord-Afrika ist die
Türkei inzwischen in die politische Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Die
Ausrufung des Kaliphats „Islamischer Staat“ durch ISIS und eines weiteren
Emirats durch einen Al Kaida-Ableger in Syrien sind dagegen Ausdruck neuer
Kräfteverhältnisse. Heute scheinen Saudi-Arabien und Katar die Führung in der
Region übernommen zu haben und maßgeblich hinter den radikal-islamischen
Bewegungen zu stehen.
Die Realisierbarkeit der neo-osmanischen
Expansionsstrategie ist daher überaus fraglich. Nichtsdestotrotz stellt sich die
Frage, wie die enge Verflechtung der Türkei mit der Dynamik in der Region, die
zunächst von NATO-Staaten angeschoben wurde, nun aber von Organisationen
bestimmt wird, die nur die Wahl zwischen totaler Unterwerfung, Flucht oder dem
Tod lassen, auf die Türkei zurückwirkt. Während die Türkei ein Transitland für
Islamisten aus der ganzen Welt geworden ist und türkische Staatsbürger auf
Seiten islamistischer Organisationen kämpfen, organisieren sich militante
Islamisten auch in der Türkei und halten Versammlungen ab. Zu erwarten ist,
dass eine Organisation wie ISIS, die die Unterwerfung aller Muslime unter ihre
Führung fordert, früher oder später auch den politischen Islam in der Türkei
vor Entscheidungen stellen wird. Dass die türkische Regierung hinsichtlich der
US-amerikanischen Pläne zur Bekämpfung von ISIS keine Begeisterung erkennen lässt
und Kritik an den grausamen Praktiken der radikalen Islamisten so gut wie gar
nicht zu vernehmen ist, eher sogar Verständnis geäußert wird, deutet darauf
hin, dass dieser Zeitpunkt bereits gekommen ist. Zwar positioniert sich die
Türkei nach langem Zögern nun an der Seite des Bündnisses gegen ISIS und
bezeichnet letztere sogar als Terrororganisation, welche tatsächlichen
Maßnahmen gegen radikale und militante Islamisten ergriffen werden, ist jedoch
nach wie vor offen. Das Zusammenkommen der „islamischen Revolution“ im Innern mit
der radikal-islamistischen Dynamik lässt jedenfalls eine konfessionelle Zuspitzung
des konservativen Islam befürchten.
Moderater
Islam revisited
Währenddessen hält der Umbruch in der größten
Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) an. Die Strategie der
rechts-populistischen Öffnung bei den Kommunalwahlen im März 2014 zeitigte nicht
den erhofften Erfolg. Deren Weiterführung durch Aufstellung eines Islamisten
zum Präsidentschaftskandidaten gemeinsam mit der faschistischen MHP
(Nationalistische Bewegungspartei) entpuppte sich dagegen als regelrechter Flop.
Der Wählerzuspruch blieb unter dem kumulierten Kommunalwahl-Ergebnis beider
Parteien. Folglich rumorte es in der Partei, eilig wurde ein außerordentlicher
Parteitag zusammengerufen. Gefordert wurde ein Neuanfang, heraus kam ein mit
weiterer islamistischer Prominenz ergänzter Vorstand unter dem alten
Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu.
Kılıçdaroğlu war vor einigen Jahren mit dem Versprechen
angetreten, die Partei zu demokratisieren. Davon ist lediglich eine Öffnung
nach rechts übrig geblieben. Seine jüngste Bewerbungsrede spricht Bände. Aufräumen
werde er mit den „elitär-schwätzenden Raki-Runden“ und „kleinen Fürstentümern“
in der Partei, eine Partei sei schließlich kein „akademischer Debattierklub“.
Die Diffamierung interner Opposition mittels Bildern, die jahrzehntelang als
Kampfbegriffe islamistischer Provenienz fungierten, zeigt das Elend einer
Partei auf, die sich verzweifelt als bürgerliche Mehrheitsbeschafferin zu
profilieren versucht und sich dabei in den Strudel der Islamisierung stürzt.
Doch warum wendet sich die Partei nach einem
landesweiten Aufstand, dessen Trägerschaft sich vor allem aus ihrer
sozialen/kulturellen Basis zusammensetzte, noch weiter nach rechts als zuvor?
Warum führt eine so breite Protestbewegung gegen Autoritarismus und islamischen
Konservatismus dazu, dass die CHP diese nun sogar in ihre Leitlinien integriert
und sich noch weiter von säkularen und republikanischen Zielen entfernt?
Offensichtlich ist, dass die
EntscheidungsträgerInnen in der Partei so weit von den libertären und
anti-neoliberalen Dynamiken des Aufstands entfernt sind, dass sie bestenfalls
einen populistischen Bezug herstellen können. Doch selbst dies bleibt
weitgehend aus. Stattdessen dominiert die Überzeugung, dass eine Mehrheit nur
über konservativ-religiöse Anrufung zu erreichen ist. Die Partei hat der
Islamisierung nichts entgegenzusetzen und tendiert dazu, diese als
unumstößliche und unveränderliche Tatsache ihrer neuen politischen Ausrichtung zugrunde
zu legen. Damit bestärkt sie, ganz im Sinne des politischen Islam, die
Autorität der Religion und gibt den Kampf um eine säkulare Gesellschaft verloren.
Die strategische Entscheidung, die Auseinandersetzung
um Mehrheiten mittels einer kultur-politischen Anpassung zu führen und
gleichzeitig auf eine ernstzunehmende sozial-demokratische Agenda zu
verzichten, lässt Schlüsse auf die bestimmenden Triebkräfte zu. So verliert die
Partei kaum ein Wort über die Lage der informell, sprich prekär und unter
miserablen Bedingungen beschäftigten Werktätigen. Der sogenannten
Stadterneuerung und den riesigen Infrastrukturprojekten unter dem Diktat kapitalistischer
Verwertungsinteressen steht sie grundsätzlich positiv gegenüber. Offenbar
handelt die Parteispitze unter dem Druck des mächtigen Verbands TÜSIAD, der die
international am stärksten verflochtenen Unternehmen repräsentiert. Wie
erwähnt, lehnt TÜSIAD im Gegensatz zu den meisten anderen Unternehmerverbänden
das Präsidialsystem ab. Dass die USA seit geraumer Zeit die CHP hofiert, ist
ein weiteres Indiz für den Formierungsversuch einer konkurrenzfähigen
neoliberalen Alternative zur AKP. So präsentiert sich das Projekt CHP als ein von
Machtkämpfen in den oberen Etagen der Gesellschaft dominiertes Unterfangen, der
Partei einen „moderat-islamischen“ Anstrich zu verpassen, obwohl dieser nicht
zur säkularen Parteibasis passt.
Während die CHP im Innern die Islamisierung
affirmativ nachvollzieht, stellt sie für das expansionistische Bestreben und
die angestrebte Führungsrolle der Türkei in der Region keine strategische
Orientierung bereit. Die Adaption eines „moderaten Islam“ impliziert allerdings
auch eine außenpolitische Anpassung, die die Partei auf ein weiteres Abrücken
von ihrer ethnisch nationalistischen und säkularen Ausrichtung festlegt. Unter
dieser Perspektive erscheint die Annäherung zwischen der CHP und der islamistischen
Gülen-Bewegung, die lange Zeit eine Schlüsselrolle in der AKP einnahm und
zuständig für die polizeilich-juristische Repression sowie die infamsten
Schmutzkampagnen und Verschwörungstheorien gegenüber der gesellschaftlichen
Opposition war, in einem neuen Licht. Seitdem die Gülen-Bewegung, deren Führung
im US-amerikanischen Exil verweilt, sich von der AKP abgespalten hat, mobilisiert
sie ihr breites Netzwerk je nach Erfolgsaussichten für die CHP oder die MHP. Deutlich
ist, dass neue Bündnisoptionen ausgelotet werden, um ein integrales Projekt in
Abgrenzung zur AKP zu formulieren.
Nöte
und Schwierigkeiten einer gesellschaftlichen Alternative
Bei den Präsidentschaftswahlen konnte die
Demokratische Partei der Völker HDP mit ihrem Kandidaten Selahattin Demirtaş
einen Schritt nach vorne verbuchen. Mit einem Ergebnis nahe an Zehn-Prozent wurden
sowohl die verlorenen Stimmen in der kurdischen Wählerschaft zurück als auch neue
WählerInnen hinzu gewonnen. Die Verdopplung der absoluten Stimmen gegenüber den
Kommunalwahlen kann einerseits damit erklärt werden, dass der sunnitische Rechtsruck
der CHP diese für die säkulare und alevitische Bevölkerung unattraktiver macht.
Andererseits hat die sich der AKP zuwendende kurdische Bevölkerung durch die
von radikalen Islamisten ausgehende Gewalt im irakischen Sindschar-Gebirge vor
Augen geführt bekommen, dass sie ohne die Guerillaorganisation PKK schutzlos
ist.
Die mit dem Etikett „radikale Demokratie“ versehene
Wahlkampagne baute auf einen egalitären Diskurs. In der HDP organisieren sich
einige linke Gruppen, die die allgemeine Ausrichtung an Gleichheitsidealen
unterstützen. Aus ihrer Sicht vereint die Partei die fortschrittlichsten
sozialen Tendenzen des Landes und umfasst mit der kurdischen Bewegung die
einzige breit verankerte Kraft mit einer Offenheit für sozial-kritische
Positionen [1]. Im Mittelpunkt der Emanzipationsziele der Partei stehen die Anerkennung
und Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten
sowie eine an Gleichstellung orientierte Geschlechterpolitik. Dass diese
Orientierung in einer von ethnischen, religiösen und patriarchalen Dynamiken
dominierten Region einen Resonanzboden fand, bestätigt den Trend des
Juni-Aufstands, wonach demokratische Versprechen gepaart mit linken Inhalten gleichfalls
einen Auftrieb erfahren haben.
Inwiefern aus der „radikalen Demokratie“ jedoch mehr
als eine Absichtserklärung und parteiinterne Quotenregelungen werden können und
in welche Richtung die widerspruchsvolle Beziehung zwischen der kurdischen
Bewegung und linken Gruppierungen sich entwickelt, hängt von vielen Faktoren
ab. Zunächst befindet sich die kurdische Bewegung - mit Abstand stärkste Kraft
in der HDP - in einem geheimen Verhandlungsprozess mit der Regierung. Der
Waffenstillstand hält bereits seit zwei Jahren an und viele politische
Gefangene wurden aus der Untersuchungshaft entlassen. Welche Zugeständnisse zu
welchem Preis gemacht werden, entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit. Noch so
viele Beteuerungen der kurdischen Bewegung, dass sie keinen Kuhhandel mit der
AKP eingehen und beispielsweise im Gegenzug für Hafterleichterungen für
Abdullah Öcalan oder einige kulturelle/sprachliche Freiheiten einem Präsidialsystem
zustimmen werde, können diese Befürchtung nicht entkräften.
In dieser intransparenten Situation entwickeln
bereits sehr kleine Gesten eine hohe symbolische Kraft. Bei der Vereidigung
Erdoğans verließ die CHP unter Protest den Saal und begründete dies mit dem
Verfassungsbruch, den Erdoğans Weigerung darstellte, sein
Ministerpräsidentenamt mit der Wahl zum Präsidenten sofort niederzulegen. Währenddessen
applaudierten einige HDP-Abgeordnete Erdoğan. Die HDP erklärte, es sei eben
staatliche Gepflogenheit bei einer solchen Feier zu applaudieren. Dass eine
Partei, die sich die radikale Demokratie auf die Fahnen schreibt, mit
institutionellen Gepflogenheiten argumentiert und einen Verfassungsbruch
beklatscht, empfanden viele als eklatanten Widerspruch. Sofort wurden Spekulationen
laut, es habe wieder geheime Verhandlungen gegeben, die der eigentliche Grund
für den Applaus gewesen seien. Solange solche Verhandlungen geheim bleiben,
wird die Glaubwürdigkeit der HDP unter einem dicken Fragezeichen stehen,
während die Nähe zu Erdoğan den Wählerzuwachs sehr schnell wieder schwinden lassen
kann.
Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung transnational
ausgerichtet ist und unterschiedliche soziale Kräfte umfasst. In ihr
organisieren sich auch kurdische Unternehmer oder solche in spe, die die
neo-osmanische Expansionsstrategie mehr oder weniger deutlich begrüßen. Sie
rechnen sich gute Chancen aus, an der Ausbeutung von Ressourcen teilzunehmen
und sehen Kurdistan im Länderviereck Türkei, Syrien, Irak und Iran als Knotenpunkt
eines neuen Eldorado. Wenn wiederum Demirtaş an die Adresse von Industriellen gerichtet
dazu aufruft, mehr im kurdischen Südosten zu investieren, so zeigt sich darin nicht
nur der Einfluss solcher Erwartungen sondern auch, wie unterbestimmt die
soziale Perspektive der „radikalen Demokratie“ ist. Welche besonderen Standortvorteile
sollten Investoren in Kurdistan erhalten? Angesichts der Masse an billigen
Arbeitskräften in der ganzen Türkei können dies nur noch billigere
Arbeitskräfte sein oder aber das Versprechen, die natürlichen Ressourcen ausbeuten
zu dürfen. Da solche Ziele nicht zum Programm der HDP gehören, im Gegenteil in
der kurdischen Bewegung Diskussionen zur Kollektivierung von Ressourcen geführt
werden, ist mindestens rätselhaft, welche Türen Investoren geöffnet werden
sollen.
Auch das umworbene alternative Regierungsmodell kann
sich den kapitalistischen Dynamiken nicht entziehen. Die kurdische Bewegung
streitet für eine De-Zentralisierung der politischen Verwaltung. Die Türkei
soll in Verwaltungseinheiten mit umfassenden Selbstbestimmungsrechten
unterteilt werden. Sicherlich steht dieses Projekt der zentralistischen Entwicklung
unter der AKP entgegen. Wird dieses Ansinnen jedoch nicht durch eine soziale
Perspektive untermauert, so läuft dies auf die Installierung parlamentarisch-liberaler
Institutionen auf regionaler Ebene hinaus, die anschließend in einen Wettbewerb
um den besten Investitionsstandort treten.
Die basisdemokratischen Initiativen, die sich nach
dem Juni-Aufstand in den Parks bildeten, hätten ein Gegengewicht zur Verengung
des politischen Aspekts der „radikalen Demokratie“ auf einen parlamentarischen
Liberalismus bilden können. Während die in der kurdischen Bewegung vorwiegende
Skepsis gegenüber dieser Dynamik sich erst sehr spät legte, fehlte den meisten
Initiativen der lange Atem. Zwar sind einige Folgeprojekte wie besetzte Häuser
und Diskussionszusammenhänge entstanden, von einem richtungsgebenden Korrektiv
für die HDP kann momentan jedoch keine Rede sein.
Schließlich formuliert die Partei auch
sozial-politische Ziele wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse
und kostenloser Zugang zu Bildung. Eine Strategie, wie diesen Anliegen
Nachdruck verliehen werden soll, fehlt noch. Ohne ein nachvollziehbares
Programm für die informalisierte und prekarisierte Arbeiterschaft wird es kaum
gelingen, das Wirkungsgefüge der AKP zu durchbrechen, das etliche integrative Mechanismen
umfasst, so die Austeilung materieller Hilfsleistungen über regierungsnahe
Sozialfonds, die Schaffung konfessioneller Privilegien und die Verteilung der
städtischen Rendite.
Innenpolitisch vor solche Herausforderungen
gestellt, wirkt sich die islamistische Dynamik im Nahen Osten auf die kurdische
Bewegung als stärkste Kraft in der HDP insbesondere durch die Bekämpfung des von
ihr gestützten syrisch-kurdischen Autonomiemodells seitens islamistischer
Milizen aus. Die internationale Isolation des Modells, das sich bislang einer
Instrumentalisierung durch den Westen entzog und im syrischen Bürgerkrieg
politisch weitgehend neutral verhielt, scheint derzeit jedoch auf dem Prüfstand
zu stehen. Noch werden die PKK und die mit ihr verbündeten Organisationen aus
der Bündnissuche gegenüber islamistischen Organisationen ausgeschlossen. Eine
Einbindung in US-amerikanisch dominierte Pläne würde ein Novum darstellen. Erste
Stimmen aus der kurdischen Bewegung, die sich eine aktivere Rolle der NATO im
Nahen Osten wünschen, signalisieren Bereitschaft. Wie ein demokratisches
Ansinnen unter linken Vorzeichen mit einer militärischen Intervention eines
sogenannten Bündnisses der Willigen, darunter auch Saudi-Arabien und Katar, die
für das Erstarken des Islamismus verantwortlich gemacht werden, zusammengehen
soll, bleibt hierbei ein Geheimnis. Zumal unumstritten ist, dass auf alle
militärischen Interventionen unter der Führung der USA ein noch größeres Chaos
und Erstarken reaktionärer Kräfte folgte.
Resümee
Die Verschränkung innerer und äußerer Dynamiken wird
durch den neo-osmanischen Versuch, im Nahen Osten hegemonial zu werden, bestimmt.
Die Formulierung politischer Projekte in der Türkei steht zunehmend unter dem
Vorzeichen dieses expansionistischen Bestrebens. Dahinter stehen deutliche
Interessen von Unternehmen, die in die südlichen Nachbarstaaten exportieren und
nach Wegen suchen, an der Ausbeutung der regionalen Energiereserven
teilzuhaben. Gleichzeitig öffnet dieses Bestreben die Türkei stärker gegenüber
den im Nahen Osten vorherrschenden Dynamiken. Die Konfessionalisierung und
Militarisierung von Politik treten hierbei als bestimmende Faktoren hervor.
Die ideologische Artikulation und kulturelle
Erziehung für die Expansionsziele sind der AKP anvertraut. Innenpolitisch angekündigt
und zu erwarten sind eine weitere autoritäre Zuspitzung und
Konfessionalisierung ihrer Politik. Dies entspricht dem eingeschlagenen Weg, den
Unmut gegenüber den mit den kapitalistischen Inwertsetzungsprojekten
verbundenen Verwerfungen – massive ökologische Zerstörung, Privatisierung des
Gemeineigentums, reproduktionspolitische Anpassungen, Vertreibung aus Vierteln,
Überschuldung - in den Griff zu bekommen.
Die CHP wird von dem Bemühen angetrieben, eine
neoliberale Alternative zur neoliberalen AKP zu formieren. Soziale und demokratische
Versprechen macht die CHP keine, stattdessen versucht sie, durch
konservativ-religiöse Anrufung Wählerstimmen von der AKP loszulösen. Mit ihrem kulturpolitischen
Rechtsruck unter dem Vorzeichen fraktioneller Konflikte nimmt sie das
Schrumpfen ihrer säkularen Basis in Kauf, derer sie sich mangels politischer Alternativen
lange sicher glaubte. Der nationalistische Teil dieser Basis ist derzeit
politisch orientierungslos und pendelt zwischen der CHP und der faschistischen
MHP.
Der für demokratische Versprechen empfänglicheren
und kulturell offeneren CHP-Basis bietet sich die HDP an, die den Unmut
gegenüber Autoritarismus und polarisierender Politik in einen
radikal-demokratischen Diskurs übersetzt. Indes unterläuft die kapitalistische
Dynamik alle hehren Ziele einer „radikalen Demokratie“, so wie sie inzwischen
die liberale Demokratie unterlaufen hat. Neue militärpolitische Einlassungen
gegenüber der islamistischen Dynamik in der Region könnten das junge Bündnis
zwischen linken Gruppierungen und der kurdischen Bewegung verkomplizieren. So
bilden die Unschlüssigkeit hinsichtlich der Rolle von Investoren und der NATO,
die Intransparenz bei politisch-strategischen Entscheidungen und die Reproduktion
parteientypischer Hierarchien zentrale Kritikpunkte innerhalb wie außerhalb der
HDP stehender linker Initiativen, die sich in Abwehrkämpfen gegenüber dem
neoliberalen Ausbeutungskomplex befinden und imperialistische Interventionen im
Nahen Osten ablehnen.
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[1] Die Bezeichnung kurdische Bewegung bezieht sich
auf ein Konglomerat an Parteien, Organisationen und Initiativen, in deren
Zentrum die von der PKK artikulierte Befreiungsperspektive steht. Während die
führende syrisch-kurdische Partei befreundet ist, sind die beiden großen
irakisch-kurdischen Parteien kein Bestandteil der Bewegung. Sie stehen für sich.