Dienstag, 30. September 2014

Schließung der hundertjährigen Klammer - Die „Neue Türkei“ im Strudel der Islamisierung

Von Errol Babacan

Die Bekämpfung von ISIS durch eine US-amerikanisch angeführte Koalition hat die türkische Innenpolitik nach den Präsidentschaftswahlen in den Hintergrund treten lassen. Indes sind die innenpolitischen Konfliktlinien parallel zum expansionistischen Bestreben der türkischen Regierung eng mit der Konfessionalisierung und Militarisierung in der gesamten nahöstlichen Region verknüpft. Wohin bewegt sich die Türkei unter der AKP, wo liegen die treibenden Dynamiken? Und wie positioniert sich die politische Opposition?

Aus den Präsidentschaftswahlen ging der amtierende Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bereits in der ersten Runde als Sieger hervor. Unmittelbar nach seiner Vereidigung wurde unter der Führung des bisherigen Außenministers Ahmet Davutoğlu ein neues Kabinett gebildet. Als Chefideologe des Neo-Osmanismus proklamiert dieser die Schließung der hundertjährigen Klammer. Gemeint ist die Wiedergewinnung des mit dem Ersten Weltkrieg verlorenen Einflusses auf die osmanischen Protektorate im Nahen Osten und in Nord-Afrika. Wohin bewegt sich die Türkei unter der AKP, wo liegen die treibenden Dynamiken? Und wie positioniert sich die politische Opposition gegenüber dem expansionistischen Bestreben?

Die hundertjährige Klammer

Als der politische Islam unter der Führung der AKP im Jahr 2002 seine erste Regierung bildete, wurde von einem glücklichen Zusammenspiel innerer und äußerer Dynamiken gesprochen. Demokratische Reformen im Inland schienen Hand in Hand mit der Annäherung an die Europäische Union und dem Aufstieg zum Modell im Nahen Osten zu verlaufen. Die als Demokratisierung ausgegebene Bekämpfung oppositioneller Machtzentren in den Justizapparaten und der Armee überdeckte jedoch, dass die AKP in erster Linie einen Austausch des bürokratischen Personals organisierte, während sie das institutionelle Setting beibehielt. Parallel errichtete sie im Namen der Terrorismusbekämpfung das Fundament für die anschließende Massenverfolgung gesellschaftlicher Opposition. Unterdessen wurde der konservative Islam Schritt für Schritt zum neuen kulturellen Leitbild aufgebaut, das sich heute wie ein Panzer um die kapitalistische Expansionsdynamik neoliberaler Prägung legt.

Tragische Folgen hatte diese Entwicklung für die säkulare und republikanische Bevölkerung, für die Linke und - durch die desaströsen „Arbeitsunfälle“ immer wieder offengelegt - für die große Masse der Werktätigen, sowie für Frauen, die den verschiedenen Facetten von Gewalt unter dem Druck des konservativen Frauenbilds ausgesetzt sind. Die als Demokratisierung begrüßte innere Dynamik bedeutete in Wahrheit nichts anderes als die Re-Formierung der Gesellschaft unter der Kontrolle des politischen Islam. Mit dem Abrücken von der politischen Integration in die EU und der Pleite des unter US-amerikanischer Führung entwickelten Leitbilds eines „moderaten Islam“ für die Region hat sich die lange Zeit hoch gehaltene äußere Dynamik ebenfalls als Reinfall entpuppt.

Seit einiger Zeit ist nun die Rede von einem neuen Zusammenspiel innerer und äußerer Dynamiken. Erdoğans Präsidentschaft wird als Fanal der inneren Dynamik gedeutet. Die Einheit von Staat und Volk, so die in islamistischen Medien verbreitete Vorstellung, sei auf allen Ebenen wiederhergestellt worden. Das gläubige Volk habe sein gläubiges Oberhaupt gefunden. Diese über kulturelle Werte imaginierte Identität zwischen dem Herrscher und seinem Volk, im konservativ-liberalen Lager auch als „Volksnähe“ oder „Authentizität“ idealisiert, bildet die ideologische Grundlage für das Präsidialsystem, das der AKP vorschwebt.

Der ausgeschiedene Staatspräsident und Mitbegründer der AKP, Abdullah Gül, stand noch für einen Ausgleich zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen im Rahmen der parlamentarischen Demokratie. Bei der Bildung des neuen Kabinetts wurde er trotz expliziter Interessenbekundung übergangen, gar ausgeschlossen. Offensichtlich neigt sich das kurze Zusammenspiel zwischen parlamentarischer Demokratie und politischem Islam seinem Ende zu. Das Vorhaben einer präsidentiellen Demokratie ist allerdings nicht förmlich entschieden. Eine parlamentarische Mehrheit für eine neue Verfassung kommt weiterhin nicht zustande. Auch die Kapitalfraktionen sind in dieser Angelegenheit gespalten. Eine ganze Reihe von Unternehmerverbänden signalisiert Unterstützung, der größte Unternehmerverband TÜSIAD äußert sich jedoch skeptisch. Folglich ist mit weiterem Widerstand zu rechnen.

Doch auch ohne einen Systemwechsel ist die Tendenz zur Zentralisierung politischer Macht, zur Aufhebung der Gewaltenteilung und zu ausnahmestaatlichen Regelungen deutlich. Zur Disposition stehen zusammen mit der parlamentarischen Demokratie und der Gewaltenteilung inzwischen auch die republikanische Verfassung mit staatsbürgerlichen Rechten, im Besonderen Frauen- und Arbeiterrechte. In der islamistischen Presse werden sie als eine Irrung der vergangenen hundert Jahre thematisiert, da sie die Türkei geschwächt hätten.

Ideologisch verbrämt wird die innere Dynamik auch als „islamische Revolution“ oder als „hundertjährige Säuberung“. In der Denktradition Samuel Huntingtons stellt Davutoğlu der „westlichen Zivilisation“ die „islamische Zivilisation“ gegenüber. Deren Träger soll eine neue islamische Elite sein. Unterstrichen wird dieses Ansinnen durch eine Vielzahl an Maßnahmen, allen voran die Konfessionalisierung von Erziehung und Bildung. Ein Beispiel mag den erreichten Stand illustrieren: Die Zahl der Gymnasien mit religiösem Schwerpunkt, die eine intensive Ausbildung in Theorie und Praxis des sunnitischen Islam und die arabische Sprache vermitteln, hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Die aktuell knapp 700.000 eingeschriebenen GymnasiastInnen an diesen Schulen bedeuten eine Steigerung um 50% im Vergleich zum Vorjahr.

Hundert Jahre, so der neue Ministerpräsident Davutoğlu, dauerte auch die gegenseitige Isolation der „Völker“ nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs. Die „Neue Türkei“, so die Sprachregelung, werde diese Isolation durchbrechen und zusammenführen, was zusammen gehöre. Hinter dieser „Zusammenführung“ stehen handfeste Interessen. Angestrebt wird die Kontrolle über Handelswege sowie Teilhabe an den Erdöl- und Erdgasfeldern in der unmittelbaren Nachbarschaft, die sich in der vergangenen Dekade zu einer „post-modernen“ Kolonie der Türkei entwickelte. Der Warenexport in die Region, deren Produktivkräfte weit unterlegen daher leicht zu dominieren sind, stieg ebenso sprunghaft an wie der Kapitalexport. Zusammengenommen sind dies ausreichend Gründe für die energiehungrige Türkei, die Region als ihre Einflusssphäre zu betrachten.

Von einem Demokratie-Modell ist keine Rede mehr aber die außenpolitischen Ambitionen sind geblieben. Die Destabilisierung von Staaten in der Region wird als neue äußere Dynamik begrüßt, die es zu nutzen gelte. Islamistische Bewegungen werden von den neo-osmanischen Strategen bei der Verfolgung ihrer Ziele als Bündnispartner betrachtet. Wie inzwischen auch in den etablierten Medien berichtet wird, leistet die türkische Regierung der kriegerischen Radikalisierung in der Region Vorschub, indem sie militante IslamistInnen zum Sturz der syrischen Regierung unterstützt. Hinzu kommt das Ziel der Bekämpfung des syrisch-kurdischen Autonomiemodells Rojava. Allerdings geht dies mitnichten auf eine abstrakte Kurdenfeindschaft zurück. Vielmehr entzieht sich Rojava dem expansionistischen Zugriff der Türkei. Die Destabilisierung des Irak durch Unterstützung der irakisch-kurdischen Autonomiebehörde gegenüber der Zentralregierung in Bagdad bildet dagegen seit Jahren eine Konstante türkischer Außenpolitik.

Die komplexe Gemengelage am Kreuzungspunkt regionaler und globaler Interessen birgt allerdings das Potential, die neo-osmanische Führungsstrategie genauso als Hirngespinst aussehen zu lassen, wie die Demokratisierung durch Annäherung an die EU. In Nord-Afrika ist die Türkei inzwischen in die politische Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Die Ausrufung des Kaliphats „Islamischer Staat“ durch ISIS und eines weiteren Emirats durch einen Al Kaida-Ableger in Syrien sind dagegen Ausdruck neuer Kräfteverhältnisse. Heute scheinen Saudi-Arabien und Katar die Führung in der Region übernommen zu haben und maßgeblich hinter den radikal-islamischen Bewegungen zu stehen.

Die Realisierbarkeit der neo-osmanischen Expansionsstrategie ist daher überaus fraglich. Nichtsdestotrotz stellt sich die Frage, wie die enge Verflechtung der Türkei mit der Dynamik in der Region, die zunächst von NATO-Staaten angeschoben wurde, nun aber von Organisationen bestimmt wird, die nur die Wahl zwischen totaler Unterwerfung, Flucht oder dem Tod lassen, auf die Türkei zurückwirkt. Während die Türkei ein Transitland für Islamisten aus der ganzen Welt geworden ist und türkische Staatsbürger auf Seiten islamistischer Organisationen kämpfen, organisieren sich militante Islamisten auch in der Türkei und halten Versammlungen ab. Zu erwarten ist, dass eine Organisation wie ISIS, die die Unterwerfung aller Muslime unter ihre Führung fordert, früher oder später auch den politischen Islam in der Türkei vor Entscheidungen stellen wird. Dass die türkische Regierung hinsichtlich der US-amerikanischen Pläne zur Bekämpfung von ISIS keine Begeisterung erkennen lässt und Kritik an den grausamen Praktiken der radikalen Islamisten so gut wie gar nicht zu vernehmen ist, eher sogar Verständnis geäußert wird, deutet darauf hin, dass dieser Zeitpunkt bereits gekommen ist. Zwar positioniert sich die Türkei nach langem Zögern nun an der Seite des Bündnisses gegen ISIS und bezeichnet letztere sogar als Terrororganisation, welche tatsächlichen Maßnahmen gegen radikale und militante Islamisten ergriffen werden, ist jedoch nach wie vor offen. Das Zusammenkommen der „islamischen Revolution“ im Innern mit der radikal-islamistischen Dynamik lässt jedenfalls eine konfessionelle Zuspitzung des konservativen Islam befürchten.

Moderater Islam revisited

Währenddessen hält der Umbruch in der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) an. Die Strategie der rechts-populistischen Öffnung bei den Kommunalwahlen im März 2014 zeitigte nicht den erhofften Erfolg. Deren Weiterführung durch Aufstellung eines Islamisten zum Präsidentschaftskandidaten gemeinsam mit der faschistischen MHP (Nationalistische Bewegungspartei) entpuppte sich dagegen als regelrechter Flop. Der Wählerzuspruch blieb unter dem kumulierten Kommunalwahl-Ergebnis beider Parteien. Folglich rumorte es in der Partei, eilig wurde ein außerordentlicher Parteitag zusammengerufen. Gefordert wurde ein Neuanfang, heraus kam ein mit weiterer islamistischer Prominenz ergänzter Vorstand unter dem alten Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu.

Kılıçdaroğlu war vor einigen Jahren mit dem Versprechen angetreten, die Partei zu demokratisieren. Davon ist lediglich eine Öffnung nach rechts übrig geblieben. Seine jüngste Bewerbungsrede spricht Bände. Aufräumen werde er mit den „elitär-schwätzenden Raki-Runden“ und „kleinen Fürstentümern“ in der Partei, eine Partei sei schließlich kein „akademischer Debattierklub“. Die Diffamierung interner Opposition mittels Bildern, die jahrzehntelang als Kampfbegriffe islamistischer Provenienz fungierten, zeigt das Elend einer Partei auf, die sich verzweifelt als bürgerliche Mehrheitsbeschafferin zu profilieren versucht und sich dabei in den Strudel der Islamisierung stürzt.

Doch warum wendet sich die Partei nach einem landesweiten Aufstand, dessen Trägerschaft sich vor allem aus ihrer sozialen/kulturellen Basis zusammensetzte, noch weiter nach rechts als zuvor? Warum führt eine so breite Protestbewegung gegen Autoritarismus und islamischen Konservatismus dazu, dass die CHP diese nun sogar in ihre Leitlinien integriert und sich noch weiter von säkularen und republikanischen Zielen entfernt?

Offensichtlich ist, dass die EntscheidungsträgerInnen in der Partei so weit von den libertären und anti-neoliberalen Dynamiken des Aufstands entfernt sind, dass sie bestenfalls einen populistischen Bezug herstellen können. Doch selbst dies bleibt weitgehend aus. Stattdessen dominiert die Überzeugung, dass eine Mehrheit nur über konservativ-religiöse Anrufung zu erreichen ist. Die Partei hat der Islamisierung nichts entgegenzusetzen und tendiert dazu, diese als unumstößliche und unveränderliche Tatsache ihrer neuen politischen Ausrichtung zugrunde zu legen. Damit bestärkt sie, ganz im Sinne des politischen Islam, die Autorität der Religion und gibt den Kampf um eine säkulare Gesellschaft verloren.

Die strategische Entscheidung, die Auseinandersetzung um Mehrheiten mittels einer kultur-politischen Anpassung zu führen und gleichzeitig auf eine ernstzunehmende sozial-demokratische Agenda zu verzichten, lässt Schlüsse auf die bestimmenden Triebkräfte zu. So verliert die Partei kaum ein Wort über die Lage der informell, sprich prekär und unter miserablen Bedingungen beschäftigten Werktätigen. Der sogenannten Stadterneuerung und den riesigen Infrastrukturprojekten unter dem Diktat kapitalistischer Verwertungsinteressen steht sie grundsätzlich positiv gegenüber. Offenbar handelt die Parteispitze unter dem Druck des mächtigen Verbands TÜSIAD, der die international am stärksten verflochtenen Unternehmen repräsentiert. Wie erwähnt, lehnt TÜSIAD im Gegensatz zu den meisten anderen Unternehmerverbänden das Präsidialsystem ab. Dass die USA seit geraumer Zeit die CHP hofiert, ist ein weiteres Indiz für den Formierungsversuch einer konkurrenzfähigen neoliberalen Alternative zur AKP. So präsentiert sich das Projekt CHP als ein von Machtkämpfen in den oberen Etagen der Gesellschaft dominiertes Unterfangen, der Partei einen „moderat-islamischen“ Anstrich zu verpassen, obwohl dieser nicht zur säkularen Parteibasis passt.

Während die CHP im Innern die Islamisierung affirmativ nachvollzieht, stellt sie für das expansionistische Bestreben und die angestrebte Führungsrolle der Türkei in der Region keine strategische Orientierung bereit. Die Adaption eines „moderaten Islam“ impliziert allerdings auch eine außenpolitische Anpassung, die die Partei auf ein weiteres Abrücken von ihrer ethnisch nationalistischen und säkularen Ausrichtung festlegt. Unter dieser Perspektive erscheint die Annäherung zwischen der CHP und der islamistischen Gülen-Bewegung, die lange Zeit eine Schlüsselrolle in der AKP einnahm und zuständig für die polizeilich-juristische Repression sowie die infamsten Schmutzkampagnen und Verschwörungstheorien gegenüber der gesellschaftlichen Opposition war, in einem neuen Licht. Seitdem die Gülen-Bewegung, deren Führung im US-amerikanischen Exil verweilt, sich von der AKP abgespalten hat, mobilisiert sie ihr breites Netzwerk je nach Erfolgsaussichten für die CHP oder die MHP. Deutlich ist, dass neue Bündnisoptionen ausgelotet werden, um ein integrales Projekt in Abgrenzung zur AKP zu formulieren.

Nöte und Schwierigkeiten einer gesellschaftlichen Alternative

Bei den Präsidentschaftswahlen konnte die Demokratische Partei der Völker HDP mit ihrem Kandidaten Selahattin Demirtaş einen Schritt nach vorne verbuchen. Mit einem Ergebnis nahe an Zehn-Prozent wurden sowohl die verlorenen Stimmen in der kurdischen Wählerschaft zurück als auch neue WählerInnen hinzu gewonnen. Die Verdopplung der absoluten Stimmen gegenüber den Kommunalwahlen kann einerseits damit erklärt werden, dass der sunnitische Rechtsruck der CHP diese für die säkulare und alevitische Bevölkerung unattraktiver macht. Andererseits hat die sich der AKP zuwendende kurdische Bevölkerung durch die von radikalen Islamisten ausgehende Gewalt im irakischen Sindschar-Gebirge vor Augen geführt bekommen, dass sie ohne die Guerillaorganisation PKK schutzlos ist.

Die mit dem Etikett „radikale Demokratie“ versehene Wahlkampagne baute auf einen egalitären Diskurs. In der HDP organisieren sich einige linke Gruppen, die die allgemeine Ausrichtung an Gleichheitsidealen unterstützen. Aus ihrer Sicht vereint die Partei die fortschrittlichsten sozialen Tendenzen des Landes und umfasst mit der kurdischen Bewegung die einzige breit verankerte Kraft mit einer Offenheit für sozial-kritische Positionen [1]. Im Mittelpunkt der Emanzipationsziele der Partei stehen die Anerkennung und Gleichstellung unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse, ethnischer Identitäten sowie eine an Gleichstellung orientierte Geschlechterpolitik. Dass diese Orientierung in einer von ethnischen, religiösen und patriarchalen Dynamiken dominierten Region einen Resonanzboden fand, bestätigt den Trend des Juni-Aufstands, wonach demokratische Versprechen gepaart mit linken Inhalten gleichfalls einen Auftrieb erfahren haben.

Inwiefern aus der „radikalen Demokratie“ jedoch mehr als eine Absichtserklärung und parteiinterne Quotenregelungen werden können und in welche Richtung die widerspruchsvolle Beziehung zwischen der kurdischen Bewegung und linken Gruppierungen sich entwickelt, hängt von vielen Faktoren ab. Zunächst befindet sich die kurdische Bewegung - mit Abstand stärkste Kraft in der HDP - in einem geheimen Verhandlungsprozess mit der Regierung. Der Waffenstillstand hält bereits seit zwei Jahren an und viele politische Gefangene wurden aus der Untersuchungshaft entlassen. Welche Zugeständnisse zu welchem Preis gemacht werden, entzieht sich jedoch der Öffentlichkeit. Noch so viele Beteuerungen der kurdischen Bewegung, dass sie keinen Kuhhandel mit der AKP eingehen und beispielsweise im Gegenzug für Hafterleichterungen für Abdullah Öcalan oder einige kulturelle/sprachliche Freiheiten einem Präsidialsystem zustimmen werde, können diese Befürchtung nicht entkräften.

In dieser intransparenten Situation entwickeln bereits sehr kleine Gesten eine hohe symbolische Kraft. Bei der Vereidigung Erdoğans verließ die CHP unter Protest den Saal und begründete dies mit dem Verfassungsbruch, den Erdoğans Weigerung darstellte, sein Ministerpräsidentenamt mit der Wahl zum Präsidenten sofort niederzulegen. Währenddessen applaudierten einige HDP-Abgeordnete Erdoğan. Die HDP erklärte, es sei eben staatliche Gepflogenheit bei einer solchen Feier zu applaudieren. Dass eine Partei, die sich die radikale Demokratie auf die Fahnen schreibt, mit institutionellen Gepflogenheiten argumentiert und einen Verfassungsbruch beklatscht, empfanden viele als eklatanten Widerspruch. Sofort wurden Spekulationen laut, es habe wieder geheime Verhandlungen gegeben, die der eigentliche Grund für den Applaus gewesen seien. Solange solche Verhandlungen geheim bleiben, wird die Glaubwürdigkeit der HDP unter einem dicken Fragezeichen stehen, während die Nähe zu Erdoğan den Wählerzuwachs sehr schnell wieder schwinden lassen kann.

Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung transnational ausgerichtet ist und unterschiedliche soziale Kräfte umfasst. In ihr organisieren sich auch kurdische Unternehmer oder solche in spe, die die neo-osmanische Expansionsstrategie mehr oder weniger deutlich begrüßen. Sie rechnen sich gute Chancen aus, an der Ausbeutung von Ressourcen teilzunehmen und sehen Kurdistan im Länderviereck Türkei, Syrien, Irak und Iran als Knotenpunkt eines neuen Eldorado. Wenn wiederum Demirtaş an die Adresse von Industriellen gerichtet dazu aufruft, mehr im kurdischen Südosten zu investieren, so zeigt sich darin nicht nur der Einfluss solcher Erwartungen sondern auch, wie unterbestimmt die soziale Perspektive der „radikalen Demokratie“ ist. Welche besonderen Standortvorteile sollten Investoren in Kurdistan erhalten? Angesichts der Masse an billigen Arbeitskräften in der ganzen Türkei können dies nur noch billigere Arbeitskräfte sein oder aber das Versprechen, die natürlichen Ressourcen ausbeuten zu dürfen. Da solche Ziele nicht zum Programm der HDP gehören, im Gegenteil in der kurdischen Bewegung Diskussionen zur Kollektivierung von Ressourcen geführt werden, ist mindestens rätselhaft, welche Türen Investoren geöffnet werden sollen.

Auch das umworbene alternative Regierungsmodell kann sich den kapitalistischen Dynamiken nicht entziehen. Die kurdische Bewegung streitet für eine De-Zentralisierung der politischen Verwaltung. Die Türkei soll in Verwaltungseinheiten mit umfassenden Selbstbestimmungsrechten unterteilt werden. Sicherlich steht dieses Projekt der zentralistischen Entwicklung unter der AKP entgegen. Wird dieses Ansinnen jedoch nicht durch eine soziale Perspektive untermauert, so läuft dies auf die Installierung parlamentarisch-liberaler Institutionen auf regionaler Ebene hinaus, die anschließend in einen Wettbewerb um den besten Investitionsstandort treten.

Die basisdemokratischen Initiativen, die sich nach dem Juni-Aufstand in den Parks bildeten, hätten ein Gegengewicht zur Verengung des politischen Aspekts der „radikalen Demokratie“ auf einen parlamentarischen Liberalismus bilden können. Während die in der kurdischen Bewegung vorwiegende Skepsis gegenüber dieser Dynamik sich erst sehr spät legte, fehlte den meisten Initiativen der lange Atem. Zwar sind einige Folgeprojekte wie besetzte Häuser und Diskussionszusammenhänge entstanden, von einem richtungsgebenden Korrektiv für die HDP kann momentan jedoch keine Rede sein.

Schließlich formuliert die Partei auch sozial-politische Ziele wie die Bekämpfung prekärer Beschäftigungsverhältnisse und kostenloser Zugang zu Bildung. Eine Strategie, wie diesen Anliegen Nachdruck verliehen werden soll, fehlt noch. Ohne ein nachvollziehbares Programm für die informalisierte und prekarisierte Arbeiterschaft wird es kaum gelingen, das Wirkungsgefüge der AKP zu durchbrechen, das etliche integrative Mechanismen umfasst, so die Austeilung materieller Hilfsleistungen über regierungsnahe Sozialfonds, die Schaffung konfessioneller Privilegien und die Verteilung der städtischen Rendite.

Innenpolitisch vor solche Herausforderungen gestellt, wirkt sich die islamistische Dynamik im Nahen Osten auf die kurdische Bewegung als stärkste Kraft in der HDP insbesondere durch die Bekämpfung des von ihr gestützten syrisch-kurdischen Autonomiemodells seitens islamistischer Milizen aus. Die internationale Isolation des Modells, das sich bislang einer Instrumentalisierung durch den Westen entzog und im syrischen Bürgerkrieg politisch weitgehend neutral verhielt, scheint derzeit jedoch auf dem Prüfstand zu stehen. Noch werden die PKK und die mit ihr verbündeten Organisationen aus der Bündnissuche gegenüber islamistischen Organisationen ausgeschlossen. Eine Einbindung in US-amerikanisch dominierte Pläne würde ein Novum darstellen. Erste Stimmen aus der kurdischen Bewegung, die sich eine aktivere Rolle der NATO im Nahen Osten wünschen, signalisieren Bereitschaft. Wie ein demokratisches Ansinnen unter linken Vorzeichen mit einer militärischen Intervention eines sogenannten Bündnisses der Willigen, darunter auch Saudi-Arabien und Katar, die für das Erstarken des Islamismus verantwortlich gemacht werden, zusammengehen soll, bleibt hierbei ein Geheimnis. Zumal unumstritten ist, dass auf alle militärischen Interventionen unter der Führung der USA ein noch größeres Chaos und Erstarken reaktionärer Kräfte folgte.

Resümee

Die Verschränkung innerer und äußerer Dynamiken wird durch den neo-osmanischen Versuch, im Nahen Osten hegemonial zu werden, bestimmt. Die Formulierung politischer Projekte in der Türkei steht zunehmend unter dem Vorzeichen dieses expansionistischen Bestrebens. Dahinter stehen deutliche Interessen von Unternehmen, die in die südlichen Nachbarstaaten exportieren und nach Wegen suchen, an der Ausbeutung der regionalen Energiereserven teilzuhaben. Gleichzeitig öffnet dieses Bestreben die Türkei stärker gegenüber den im Nahen Osten vorherrschenden Dynamiken. Die Konfessionalisierung und Militarisierung von Politik treten hierbei als bestimmende Faktoren hervor.

Die ideologische Artikulation und kulturelle Erziehung für die Expansionsziele sind der AKP anvertraut. Innenpolitisch angekündigt und zu erwarten sind eine weitere autoritäre Zuspitzung und Konfessionalisierung ihrer Politik. Dies entspricht dem eingeschlagenen Weg, den Unmut gegenüber den mit den kapitalistischen Inwertsetzungsprojekten verbundenen Verwerfungen – massive ökologische Zerstörung, Privatisierung des Gemeineigentums, reproduktionspolitische Anpassungen, Vertreibung aus Vierteln, Überschuldung - in den Griff zu bekommen.

Die CHP wird von dem Bemühen angetrieben, eine neoliberale Alternative zur neoliberalen AKP zu formieren. Soziale und demokratische Versprechen macht die CHP keine, stattdessen versucht sie, durch konservativ-religiöse Anrufung Wählerstimmen von der AKP loszulösen. Mit ihrem kulturpolitischen Rechtsruck unter dem Vorzeichen fraktioneller Konflikte nimmt sie das Schrumpfen ihrer säkularen Basis in Kauf, derer sie sich mangels politischer Alternativen lange sicher glaubte. Der nationalistische Teil dieser Basis ist derzeit politisch orientierungslos und pendelt zwischen der CHP und der faschistischen MHP.

Der für demokratische Versprechen empfänglicheren und kulturell offeneren CHP-Basis bietet sich die HDP an, die den Unmut gegenüber Autoritarismus und polarisierender Politik in einen radikal-demokratischen Diskurs übersetzt. Indes unterläuft die kapitalistische Dynamik alle hehren Ziele einer „radikalen Demokratie“, so wie sie inzwischen die liberale Demokratie unterlaufen hat. Neue militärpolitische Einlassungen gegenüber der islamistischen Dynamik in der Region könnten das junge Bündnis zwischen linken Gruppierungen und der kurdischen Bewegung verkomplizieren. So bilden die Unschlüssigkeit hinsichtlich der Rolle von Investoren und der NATO, die Intransparenz bei politisch-strategischen Entscheidungen und die Reproduktion parteientypischer Hierarchien zentrale Kritikpunkte innerhalb wie außerhalb der HDP stehender linker Initiativen, die sich in Abwehrkämpfen gegenüber dem neoliberalen Ausbeutungskomplex befinden und imperialistische Interventionen im Nahen Osten ablehnen.
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[1] Die Bezeichnung kurdische Bewegung bezieht sich auf ein Konglomerat an Parteien, Organisationen und Initiativen, in deren Zentrum die von der PKK artikulierte Befreiungsperspektive steht. Während die führende syrisch-kurdische Partei befreundet ist, sind die beiden großen irakisch-kurdischen Parteien kein Bestandteil der Bewegung. Sie stehen für sich.