Von
Murat Çakır
Ist die »Neue Türkei« der
AKP ein vorkapitalistisches Staatsprojekt? Zieht Erdoğan das Land in ein
anachronistisches Abenteuer hinein? Eine Intervention gegen eine
Geisterdebatte.
In oppositionellen
Kreisen der Türkei wird die Auffassung populärer, gegen den islamischen
Faschismus der AKP müsse die laizistische Republik von 1923 verteidigt werden. In
dieses Horn stößt auch ein kürzlich erschienener Artikel von Tarık Ziya Ekinci
mit der Überschrift: »Die ›Neue Türkei‹ der AKP ist ein vorkapitalistisches
Staatsprojekt« [1]. Darin heißt es, die AKP sei dabei, den Aufbau einer »Neuen
Türkei« auf der Grundlage des sunnitischen Islam abzuschließen und die Türkei
in ein »anachronistisches Abenteuer« zu stoßen.
Ekinci ist ein in
liberalen und linken Kreisen angesehener Intellektueller. Sein Wort hat nicht
nur Gewicht, es drückt auch einen liberalen Common Sense aus. Einige Entwicklungen,
die wir in der Türkei beobachten können, lassen das Aufkommen eines Faschismus im
Verbund mit einer reaktionären Ideologie durchaus als akute Gefahr erscheinen. Doch
von einem Rückfall in vorkapitalistische Zeiten kann keine Rede sein. Dies ist
ein Trugschluss, der auf falschen Annahmen basiert. Er verhindert, die aktuelle
Entwicklung in ihrer gesamten Tragweite zu begreifen, und kann ins strategische
Abseits führen.
»Alter
Staat« liquidiert
Ekinci stellt fest, dass
das kemalistische Regime nach dem Verfassungsreferendum vom 16. April 2017
»meisterlich liquidiert wurde«. Unter der Führung von Erdoğan werde ein neues
Regime aufgebaut. Die AKP sei heute die einzige Partei, die in der Gesellschaft
eine kulturelle und ideologische Hegemonie aufrechterhalten könne. Auf der
Basis ihrer »Grundideologie« – dem sunnitischen Islam – sei sie bestrebt, »vorkapitalistische
Institutionen« wiederzubeleben, so Ekinci mit Blick auf die Förderung
religiöser Weltanschauungen im Erziehungs- und Bildungssystem sowie stärker werdende
religiöse Gemeinschaften.
Ekinci warnt die
Kemalisten, sie sollten nicht glauben, dass die AKP von ihrem Projekt ablasse,
nur weil sie es nicht immerfort aggressiv und radikal – »revolutionär« –
vorantreibe. Inzwischen werde eine »evolutionäre« Strategie verfolgt, womit
Ekinci den schleichenden aber unablässig betriebenen reaktionären Wandel anspricht.
Die »Neue Türkei« könne weder ein demokratischer noch ein laizistischer
Rechtsstaat bleiben.
Ekinci betont ferner,
dass die AKP in den ersten fünf Regierungsjahren einen konsequenten Kampf für
die Erweiterung der demokratischen Grundrechte und Stärkung des Rechtsstaats
geführt habe. Dabei habe sie bei der Bekämpfung von radikalen Elementen der
Armee große öffentliche Unterstützung erhalten, die Armee zuerst von Kemalisten,
dann aber von allen Gegnern des Projekts »Neue Türkei« gesäubert.
Besonders enttäuscht ist
Ekinci von der Bourgeoisie. Obwohl die Lösung der kurdischen Frage und die
Herstellung eines gesellschaftlichen Friedens, die Erweiterung von
demokratischen Grundrechten und die Wiederherstellung eines echten Rechtsstaats
mit ihren Klasseninteressen übereinstimmten, setze sich die Bourgeoisie nicht
für diese Ziele ein. Dies komme einer Selbstverleugnung gleich. Obwohl die
Aufhebung des Ausnahmezustands in ihrem Interesse liege, halte sie gegenüber
Erdoğan still. Das sei eine nicht zu entschuldigende Schwäche.
Aus den Zeilen spricht
ein vom Großbürgertum enttäuschter kleinbürgerlicher Liberalismus. Doch die
Enttäuschung führt Ekinci immerhin zu einer richtigen Agenda: »Wenn die politischen
Parteien der Arbeiter*innenklasse, Gewerkschaften, die kurdische
Befreiungsbewegung, Alevit*innen und andere diskriminierte Gruppen eine
gemeinsame politische Bewegung gründen können, kann es verhindert werden, dass
die Türkei in ein anachronistisches Abenteuer hineingezogen wird«.
Kapitalismus
ist nicht Demokratie
Solange die liberalen
Trugschlüsse fortbestehen, steht eine richtige Agenda immer in der Gefahr,
korrumpiert oder auf Irrwege gelenkt zu werden. Dies kann der Fall sein, wenn
demokratische Lippenbekenntnisse der Bourgeoisie als Ausdruck eines wahren
Kerns gesehen werden, die politische Strategie an der Gewinnung der Bourgeoisie
als natürliche weil demokratische Verbündete ausgerichtet wird oder wenn auf
den Westen gebaut wird, weil dort vermeintlich eine echte und mutige
Bourgeoisie existiert, die immer für die Demokratie streitet.
Dies ist wohl der wichtigste
Trugschluss der vom Liberalismus beeinflussten Linken in der Türkei: Die
Auffassung, die Demokratie stimme mit den Klasseninteressen der Bourgeoisie
überein. Die Entstehung von Bourgeoisie und Demokratie im Westen werden fälschlicherweise
als deckungsgleich dargestellt. Auf der Grundlage dieser Annahme wird dann
behauptet, in der Türkei sei das anders. Die Bourgeoisie stehe hier nicht für
Demokratie, da sie vom Staat gegründet worden sei. Ihr habe eine eigenständige
soziale Basis gefehlt, damit habe sie auch kein Selbstvertrauen entwickelt,
sich gegen Autoritarismus aufzulehnen und die Demokratie zu verteidigen. Die
türkische Bourgeoisie sei auch später niemals herrschend geworden, sie habe
immer ein von der militärisch-zivilen Bürokratie abhängiges Dasein gefristet. Infolge
der internalisierten Unterwerfung weigere sich die große Bourgeoisie noch
heute, Klassenherrschaft auszuüben und der Türkei ihren demokratischen Stempel
aufzudrücken.
Diese liberale Auslegung
will nicht zur Kenntnis nehmen, dass das Verhältnis zwischen Kapitalismus und
Demokratie nicht kausal oder strukturell ist, sondern Konjunkturen unterliegt.
Die bürgerliche Demokratie basiert auf einem instabilen Kompromissgleichgewicht
zwischen den gesellschaftlichen Klassen. Die Kämpfe der Arbeiter*innenklasse,
die Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen und die
Hegemoniebestrebungen der Bourgeoisie bestimmen die Funktionalität und das
Niveau der bürgerlichen Demokratien.
Für die Festigung der
herrschenden Macht- und Eigentumsverhältnisse ist eine bürgerliche Demokratie nicht
zwingend. Die jüngere Geschichte ist voller Beispiele, wie bei der Wahrung
herrschender Klasseninteressen die bürgerliche Demokratie entkernt wird, autokratische,
sogar faschistische Diktaturen installiert werden. Der kapitalistische
Entwicklungsprozess ist nicht gradlinig, verfolgt nicht überall die gleichen
Wege und Etappen. Historische und materielle Bedingungen, die weltweite Konjunktur,
Klassen- und Fraktionskämpfe beeinflussen sich gegenseitig und prägen in jedem
Land den Entwicklungsprozess unterschiedlich.
Kapitalistischer
Staat
Die Türkei ist, wie
überall wo kapitalistische Produktionsverhältnisse vorherrschen, ein
kapitalistischer Staat und dieser ist – in letzter Instanz – ein
Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie. Liberale Behauptungen, dass die
»kemalistische Republik kein bürgerlicher Staat« sei und »keine soziale Basis«
hätte, sind abstrakte Formeln.
Liberale, Kemalisten als
auch manche Linke lösen die Bürokratie von ihrem Klasseninhalt und stellen sie über
die Klassen. Während Kemalisten die Armee zur Beschützerin der laizistischen
Ordnung stilisieren, fabulieren Liberale eine von jeglichen Klasseninhalten
losgelöste militärische Vormundschaft.
Dabei wird verdrängt,
dass die militärische und zivile Bürokratie Herrschaftsinstrumente des
kapitalistischen Staates sind. Jede einzelne der bisherigen militärischen Interventionen
wurde zur Festigung beziehungsweise Erneuerung des kapitalistischen
Akkumulationsregimes durchgeführt. Der Militärputsch vom 12. September 1980 diente
der Verschiebung der Kräfteverhältnisse zugunsten des türkischen Kapitals. Um
das neoliberale Akkumulationsregime zu verankern, musste der gesellschaftliche
und gewerkschaftliche Widerstand gegen das Strukturanpassungsprogramm des IWF
vom 24. Januar 1980 gebrochen werden. Der Putsch diente der Wahrung der
Interessen der gesamten Bourgeoisie der Türkei in Abstimmung mit den imperialistischen
Mächten. Mehr noch: Es war die »kemalistische und laizistische« Militärjunta,
die dem politischen Islam den Weg ebnete, um die linke Opposition zu bekämpfen.
Mit den
AKP-Regierungsjahren ab 2002 begann nicht »ein konsequenter Kampf für die
Erweiterung der demokratischen Grundrechte und Stärkung des Rechtsstaats«, wie
Ekinci meint, sondern ein Prozess, der das in die Krise geratene bürgerliche
Gefüge restaurieren und die schwindende Zustimmung für das neoliberale
Akkumulationsregime – erneut unter der Ägide des IWF – wiederherstellen sollte.
Die AKP trägt seitdem maßgeblich den autoritären Neoliberalismus, sie ist die gesellschaftlich-politische
Akteurin der kapitalistischen Ausbeutung, die die Wahrung der Gesamtinteressen
der Bourgeoisie – sowohl der Monopolbourgeoisie als auch anderer Fraktionen –
garantiert.
Kemalistischer
Laizismus ist nicht Säkularismus
Die AKP ist eine
reaktionäre Partei, eine konservative politische Formation, die als Koalition
unterschiedlicher Strömungen des politischen Islams gegründet wurde, sich inzwischen
aber von einem erheblichen Teil ihrer Gründungsmitglieder getrennt hat. Ihre Ideologie
gründet auf der »türkisch-islamischen Synthese«. Dabei benutzt die AKP den kemalistischen
Laizismus so wie alle anderen Parteien vor ihr auch.
Der kemalistische
Laizismus hat von Anfang an, trotz aller Aufklärungsversprechen und einiger aufklärerischer
Reformen, nie einen wirklich säkularen Staat etabliert. Staat und Religion
wurden nicht voneinander getrennt, sondern eine Staatsreligion etabliert, die
absolute Wahrheiten verkündet. Insbesondere mittels der zentralistischen
Religionsanstalt »Diyanet« wurde eine offizielle Staatsreligion auf der
Grundlage der sunnitischen Interpretation des Islams eingeführt, mit deren
Hilfe die kapitalistische Ausbeutung legitimiert, gesellschaftlicher Widerstand
und insbesondere Kämpfe der Arbeiter*innenklasse im Keime erstickt werden
sollten.
Die AKP nutzt die vom
kemalistischen Regime aufgebauten Strukturen, um den Inhalt der Staatsreligion
zu bestimmen und ihre Macht zu festigen. Das Regime ist dabei, eine
Islamversion sunnitisch-salafistischer Prägung einzuführen, die keinen anderen
Glauben neben sich duldet, mit der aber auch der Neoliberalismus und ein Almosenregime
geheiligt werden. Genau aus diesem Grund besteht zwischen der türkischen
Bourgeoisie und dem autoritären Religionsverständnis kein grundlegender
Widerspruch. Diese Feststellung schließt nicht aus, dass es Reibungen zwischen
der Regierung und Interessenverbänden der Bourgeoisie oder einzelnen
Unternehmern bis hin zu Enteignungen geben kann. Solche Reibungen sind jedoch
der Normalfall im Kapitalismus, ihnen unterliegt die kapitalistische
Konkurrenz, die immer auch mit politischen Mitteln ausgetragen wird.
Wenn Ekinci nun meint, die
Religion sei die »Grundideologie« der AKP, dann meint er etwas vollkommen
anderes als eben ausgeführt. Kemalistische und liberale Lesarten, die allein
den religiös-reaktionären Inhalt der AKP als Problem ausdeuten, verstellen den
Blick auf die Klassenbasis der AKP beziehungsweise des politischen Islams. Denn
die reaktionäre Weltanschauung, die nationalistische Rhetorik der AKP sind der
konkrete Ausdruck ihres bürgerlichen Charakters. Ihrer Programmatik nach ist
die AKP eine bürgerliche Partei, eben eine ziemlich reaktionäre und aggressive.
Sinngemäß adaptiert
stimmt Marx‘ Ausspruch noch immer: Der herrschende Glaube ist der Glaube der
herrschenden Klasse.
Bürgerliche
Reaktion
Das AKP-Palast-Regime ist
nicht auf dem Weg, eine »Neue Türkei« zu gründen, sondern das mit der
Militärdiktatur durchgesetzte neoliberale Akkumulationsregime zu vertiefen. Die
AKP hat weder »demokratische Grundrechte erweitert«, noch »vorkapitalistische
Strukturen installiert«. Sowohl das Präsidialsystem als auch der
Ausnahmezustand wahren die Interessen der Monopolbourgeoisie aber auch anderer inländischer
wie ausländischer Fraktionen [2]. Die eigentliche Verneinung der Identität würde
eintreten, wenn die Bourgeoisie sich dem Ausnahmezustand und den Dekreten
entgegenstellen würde.
Dass das Regime immer
autoritärer wird und sogar die Gefahr einer faschistischen Diktatur nicht von
der Hand zu weisen ist, liegt nicht daran, dass das Regime von sich aus zur
Allmacht drängt. In Krisenzeiten, wenn sich die Klassengegensätze verschärfen,
Fraktionskämpfe zunehmen, am Horizont sich größere Krisen zusammenbrauen, wird
die Entkernung der bürgerlichen Demokratie, der Autoritarismus oder gar eine
faschistische Diktatur zur Option, um die Kontinuität der Akkumulation zu
gewährleisten.
Die globale Überakkumulationskrise,
die Schwankungen der Weltkonjunktur, ökologische Zerstörung, Migrations- und
Flüchtlingsbewegungen, militärische Konflikte führen nicht nur in
privilegierten Regionen der Welt dazu, dass sich Chauvinismus verbreitet,
rassistische und rechtspopulistische Parteien Zulauf bekommen und autoritäre Entwicklungen
verstärkt werden.
In einem semi-peripheren
Land wie der Türkei, wo strukturelle Abhängigkeiten zu den kapitalistischen
Akkumulationszentren bestehen, wirken kapitalistische Krisentendenzen stärker. Auch
vor der AKP war die Türkei autoritär verfasst, mit ihr nimmt die Entwicklung
aber eine totalitäre Form an. Die Gezi-Proteste und der Kampf der kurdischen
Befreiungsbewegung zeigen aber, dass jederzeit mit Widerstand zu rechnen ist. Die
totalitäre Entwicklung ist daher kein »anachronistisches Abenteuer«, sondern
eine bürgerliche Reaktion auf Krisen und Kämpfe.
Prioritäten
ohne Illusionen
Unter den gegenwärtigen
Bedingungen ist die Nutzung eines jeden fortschrittlichen Schrittes für den
Aufbau eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses eine immense strategische
Herausforderung. Jeder Schritt, wie klein er auch sein mag, wie sehr er auch
aus den Widersprüchen im Machtblock hervorgeht, muss genutzt werden, und zwar
auch dann, wenn er von bürgerlichen Kräften ausgeht, ohne aber die Illusion zu
nähren, dass Demokratie ursächlich von der Bourgeoisie ausgehen könne.
Trotz grundsätzlicher
Kritik an der bürgerlichen Demokratie und an liberalen Freiheiten ist aber deren
Stellenwert anzuerkennen. Nicht die bürgerliche Demokratie an sich ist eine
Illusion. Sie ist ein Ergebnis von Kämpfen, die weitergetragen werden müssen.
Heute müssen bürgerliche Grundrechte, Presse-, Meinungs- und
Organisationsfreiheiten, gewerkschaftliche Rechte, eine säkulare Wissenschaft auch
gegen die Bourgeoisie verteidigt werden.
Unter den gegebenen
Bedingungen ist es eine Priorität, das AKP-Palast-Regime zurückzudrängen. Die
Teilnahme unterschiedlicher Gruppen am »Gerechtigkeitsmarsch« der CHP weist
erneut auf ein Oppositionspotential hin. Diese Gruppen aus Enttäuschung oder
aufgrund kemalistischer Provokationen im Stich zu lassen, ist keine Option. Sie
der kemalistischen Führung zu überlassen, ist ebenso wenig eine Option, wie auf
die Bourgeoisie oder den Westen als Retter in der Not zu hoffen.
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Von
1965 bis 1969 war Ekinci Abgeordneter der TIP (Arbeiterpartei der Türkei). Er
wurde mehrfach wegen kurdischer Propaganda verhaftet. Er ist Gründer der
Organisation »Demokratische Versöhnung und Initiative zur Lösung der kurdischen
Frage« (DEMOS).
[2]
Siehe: Ankaras Anleihe. Türkischer Vermögensfonds sammelt Staatsbesitz des Landes ein.
Internationalen Gläubigern wird die Tür geöffnet.