Von
Joachim Becker
Die Türkei steht an einem Scheideweg. In
Meinungsumfragen lagen „Ja“ und „Nein“ bislang fast gleich auf, teils sehen sie
das „Nein“ sogar vorn. Noch herrscht nervöse Ruhe, aber die Lage ist explosiv.
Auf den ersten Blick scheint in Istanbul
alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Die Straßen sind verstopft, die Leute
hasten zur Fähre. Seit Wochen ist es ruhig, hat es keine Anschläge gegeben. Doch
ist die Polizeipräsenz ungleich stärker als noch im Frühsommer. An manchen
Tagen scheint die Istiklal Caddesi, die traditionelle Einkaufsstraße auf der
europäischen Seite, im Belagerungszustand zu sein. Jede Nebenstraße ist durch
die Polizei abgesperrt, an jeder Ecke steht ein Polizeiwagen mit Blaulicht.
Morgens macht im Wohnviertel Beşiktaş ein nicht-uniformierter Sicherheitsmann
mit Schussweste und Gewehr unter dem Arm gemeinsam mit einem Bekannten
Besorgungen. Derartige Alltagsszenen waren früher nicht zu sehen. Und Gespräche
– auch mit deklariert unpolitischen IstanbulerInnen – kommen immer wieder auf
das Verfassungsreferendum am 16. April und damit auf die Frage zurück, was um
diesen Tag herum alles passieren könne.
Über eine teilweise Verfassungsreform soll
ein ultra-präsidentialistisches Regime in der Türkei eingeführt werden. Dies
ist ein lang gehegtes Vorhaben des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Bei
den Parlamentswahlen verpasste die regierende Adalet ve Kalkınma Parti (AKP) eine
verfassungsändernde Mehrheit. Selbst für das Ansetzen eines
Verfassungsreferendums war sie auf Stimmen einer weiteren Partei angewiesen,
wobei sich die ultranationalistische Milliyetçi Hareket Partisi (MHP) anbot.
Doch galt eine größere Anzahl von AKP-Abgeordneten bei einer solchen Abstimmung
als unsichere Kantonisten. Auf die Tagesordnung wurden Verfassungsänderungen
erst nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 und der Verhängung
des Ausnahmezustandes gesetzt. Nun war der Druck auf die AKP-Abgeordneten so
groß, dass AbweichlerInnentum kaum mehr denkbar war. Gegen Widerstände in der
eigenen Partei schlug sich der MHP-Vorsitzende
Devlet Bahçeli in der Verfassungsfrage auf Seiten Erdoğans und stellte eine
für ein Referendum ausreichende Stimmenmehrheit sicher. Gegen die Opposition
aus Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) und der scharf verfolgten, kurdisch-linken
Halkarın Demokratik Partisi (HDP) wurden die Verfassungsänderungen im
Schnellverfahren durch das Parlament gepeitscht.
Sie sollen dem Staatspräsidenten umfassende
Befugnisse geben. Er ernennt und entlässt die MinisterInnen, einen
Premierminister soll es nicht mehr geben. Er kann das Parlament auflösen. Er hat die Möglichkeit Gesetze per Veto zu
blockieren, erhält aber auch Möglichkeiten zum Regieren per Dekret. Damit wird
das Parlament fast zum Dekor. Die Rolle der Parteien würde stark vermindert,
die regierende AKP wohl zu einer Wahlmaschine und einem Klientelnetzwerk
degradiert. Der zentristischen CHP wäre in einem solchen System wohl die Rolle
einer „offiziellen“, aber zahnlosen Opposition zugedacht. Maßgeblichen Einfluss
soll der Staatspräsident auf Schlüsselbesetzungen in der Justiz nehmen können.
Von einer Gewaltenteilung würde in einem solchen System nicht viel bleiben.
An der extremen Machtfülle, die für den
Präsidenten vorgesehen ist, macht sich die Kritik der Opposition fest. Sie
spricht von der Schaffung eines „Ein-Mann-Regimes“. Eine Person, die alle
Befugnisse auf sich vereinige, sei laut offiziellen türkischen Wörterbuch ein
Diktator, merkte der CHP-Generalsekretär Kemal Kılıçaroğlu an. Auch könne von
einer unabhängigen Justiz nicht mehr die Rede sein. Der
Gewerkschaftsdachverband DISK hebt in seinen Informationsmaterialien hervor,
dass Präsidialregime im internationalen Vergleich bei ArbeitnehmerInnenrechten
deutlich schlechter abschnitten als parlamentarische Systeme.
Regierungsvertreter preisen die
Machtkonzentration als ein Mittel der Stabilität an. GegnerInnen der
Verfassungsänderungen stellen sie auf eine Stufe mit „Terroristen“. „Jene, die
beim Staatsstreich scheiterten, versuchen einen neuen Schlag mit dem Nein im
Referendum“, verlautbarte etwa der AKP-Abgeordnete Yalçın Akdoğan. Noch weiter
ging der Vize-Vorsitzende der AKP in der Provinz Manisa: „Wenn es uns nicht
gelingen wird, über 50 Prozent zu
kommen, und das Referendum scheitert, dann macht euch auf einen Bürgerkrieg
gefasst.“ Er musste seinen Posten allerdings räumen. Es zeichnet sich eine
massive Einschüchterungs- und Angstkampagne ab.
Die Opposition ist in ihren Kampagnenmöglichkeiten
stark eingeschränkt. AktivistInnen des „Nein“ müssen auf der Straße mit
physischen Attacken richten. Die Presse ist mit Repression und Kooptierung
weitgehend auf Linie gebracht worden. Zu Jahresbeginn 2017 waren 131
JournalistInnen in Haft. Die Fernsehkanäle
berichten auf Regierungslinie. Bei den Tageszeitungen sind drei – bedrängte –
oppositionelle Blätter, die traditionsreiche Cumhuriyet sowie die beiden
kleinen linken Zeitungen Bir Gün und Evrensel, übrig geblieben. Einzelne
kritische Portale gibt es noch im Internet. WissenschaftlerInnen könnten
potenziell in eine Diskussion eingreifen. Allein unter den Gesetzesdekreten des
Ausnahmezustandes sind allerdings 4811 WissenschaftlerInnen entlassen worden.
Sie haben nicht nur ihre Arbeitsstelle, sondern auch ihren Pass verloren. Damit
geht die AKP-Regierung, wie der bekannte linke Ökonom Korkut Boratav
unterstreicht, in ihrer Repression gegen missliebige AkademikerInnen noch
weiter als die Militärdiktatur zu Anfang der 1980er Jahre. Standen bei den
ersten Entlassungen mutmaßliche Anhänger der Gülen-Gemeinschaft, früheren
Verbündeten und jetzigen GegnerInnen Erdoğans, die als Hauptdrahtzieher des
gescheiterten Coups bezeichnet werden, im Vordergrund, so sind es nun zunehmend
Linke. Von der jüngsten Entlassungswelle war beispielsweise auch mit İbrahim Kaboğlu einer der bekanntest
türkischen Rechtsexperten betroffen.
Zahlreiche HDP-Abgeordnete sind in Haft.
Fast alle gewählten HDP-BürgermeisterInnen im Südosten des Landes wurden von
der Regierung abgesetzt, die dortigen Stadtverwaltungen politisch „gesäubert“.
Aufgrund der zahlreichen Verhaftungen ist die HDP faktisch kaum kampagnenfähig.
Die Präsenz der Sicherheitskräfte im Südosten des Landes ist sehr massiv. Die
CHP hat größere Handlungsspielräume als die HDP. In der MHP hat sich – gegen
die Parteiführung – eine starke und prominent besetzte Plattform für das Nein
gebildet. Es gibt also auch eine rechte Kampagne für das „Nein“. Die kleine
rechtsreligiöse Saadet Partisi hat sich kritisch zu den Verfassungsänderungen
positioniert, macht aber keine Kampagne. Laut Meinungsumfragen überwiegen
sowohl bei den MHP- als auch den Saadet Partisi-WählerInnen die
BefürworterInnen des „Nein“.
Mobilisiert wird für das „Nein“ auch von
Seiten der Gewerkschaften. Sie stellen in ihrer Kampagne vor allem auf die
Implikationen eines Präsidialsystems für die ArbeitnehmerInnenrechte ab. Es ist
erkennbar, dass sich auch rechte Gewerkschaftsmitglieder – mit einer langen
MHP-Geschichte oder islamistischen Sympathien – sehr aktiv in die
„Nein“-Kampagne einbringen. Auch Organisationen auf Stadtteilebene oder
Frauengruppen mobilisieren für das „Nein“. Sie sind mit Flugzetteln auf der
Straße zu sehen, während die AKP großflächig für das „Ja“ plakatieren lässt.
Die starke Kampagne der AKP im Ausland
zielt speziell auf das nationalistische Lager. Die Behinderung und Verbote von
Auftritten von AKP-MinisterInnen im Ausland erlauben es der AKP, sich als
„diskriminierte“ Kraft zu präsentieren. SprecherInnen der türkischen Oppositionsparteien,
auch der starker Repression unterliegenden HDP, haben sich von Anfang an gegen
derartige Auftrittsverbote ausgesprochen. Mit dem Einreiseverbot bzw. der
Ausweisung türkischer MinisterInnen, die zeitgleich mit der Endphase des stark
in der Migrationsfrage polarisierten niederländischen Wahlkampfes in
holländischen Städten für das „Ja“ werben wollten, seitens der Regierung im
Haag ist der Konflikt endgültig eskaliert. Die Regierung Rutte ergriff die
drastischen Maßnahmen offenbar aus Wahlkalkül und Angst vor der extrem
anti-muslimischen Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders. Wie die
holländische Zeitung de Volkskrant dezent einräumte, hat das türkische
Nein-Lager in den Niederlanden nichts von der diplomatischen Feldschlacht. Der
zugespitzte Konflikt spielt dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip
Erdoğan direkt in die Hände. Die türkische Regierung versucht die
Referendumskampagne von der für sie unbequemen Frage der extremen
Machtkonzentration, die für den Präsidenten in der veränderten Verfassung
vorgesehen wäre, umzuleiten auf die Frage „Türkei versus Europa“.
Die Türkei steht an einem Scheideweg. In
Meinungsumfragen lagen „Ja“ und „Nein“ bislang fast gleich auf, teils sehen sie
das „Nein“ sogar vorn. Noch herrscht nervöse Ruhe, aber die Lage ist explosiv.
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Joachim Becker ist Hochschullehrer und
Betriebsrat in Wien
Der Artikel erschien zuerst im Blog Belvederegasse.