Interview mit Errol Babacan
Von Mustafa İlhan
Wie gestalten
sich die ökonomischen Beziehungen der Türkei zum Westen angesichts politischer
Turbulenzen und diplomatischer Spannungen? Ziehen sich westliche Investoren aus
der Türkei zurück und werden durch arabische ersetzt? Wie wirkt sich die
Absenkung der Kreditnoten durch internationale Ratingagenturen aus?
Der Druck auf die Türkische Lira steigt. Nach dem
Putschversuch vom 15. Juli 2016 haben die Ratingagenturen Moody’s, S&P und
zuletzt Fitch die Kreditwürdigkeit der Türkei auf Ramschniveau herabgestuft. Zur
Jahreswende 2016/2017 kam es zu einem Kursrutsch. Die Zentralbank der Türkei
reagierte, indem sie die Obergrenze des Zinskorridors von 8,5 auf 9,25 %
erhöhte. Den Leitzins beließ sie bei 8 %. Eine teilweise Erholung der Lira
setzte ein.
Was bedeutet es, wenn Ratingagenturen die Kreditnote
eines Schwellenlandes wie der Türkei herabsetzen?
Errol Babacan: Ratingagenturen
erfüllen insbesondere für institutionelle Anleger die Funktion einer
Risikosteuerung. Die Absenkung der Note der Türkei auf „Nicht-Investitionsfähig“
bewirkt, dass bestimmte Anleger wegbleiben oder sich zurückziehen werden. Die
Abnahme von Kapitalzuflüssen erhöht den Druck auf die Lira. Das Defizit in der Zahlungsbilanz,
dem ein Handelsbilanzdefizit zugrunde liegt, steigt, woraus schließlich eine Finanzkrise
hervorgehen könnte.
Neben einem
solchen Effekt ist die Absenkung der Noten aber eher eine Reaktion auf eine
langfristige Entwicklung. Die Lira wertet seit etwa vier Jahren ab. Das wirkt
sich zunehmend auf die Unternehmen aus. In folgender Weise: Ökonomisches
Wachstum – das Wachstum türkischer Unternehmen – wird von Außen finanziert. Insbesondere
Technologie und Energie werden importiert. Hierfür werden Devisen (Dollar/Euro)
benötigt, die zu einem erheblichen Teil durch die Aufnahme von Schulden besorgt
werden. Vor der Krise im Jahr 2001 wurde dies über den Verkauf von
Staatsanleihen gesteuert, danach haben sich Unternehmen zunehmend direkt
ausländische Kredite besorgt.
Mit der Abwertung
der Lira steigt der relative Preis für Importe wie auch für neue
Auslandskredite, während für die Rückzahlung alter Kredite mehr Mittel
aufgebracht werden müssen. Steigende Arbeitslosigkeit und Maßnahmen der
Regierung zur Restrukturierung von Schulden weisen darauf hin, dass etliche Unternehmen
an eine Grenze gestoßen sind. Jedenfalls steigt der Druck durch die Absenkung
der Note, aber das Problem bestand schon vorher.
Wenn wir uns die Entscheidung der Zentralbank der Türkei
vor Augen halten, wie lange kann die Lira sich noch gegenüber dem Dollar
halten?
EB: Ob es erneut zu
einem Kursrutsch kommen wird? Das voraussehen zu wollen oder ein Datum zu
nennen, wäre spekulativ. Entscheidungen, die von den Zentralbanken der USA und
der EU getroffen werden, spielen eine wichtige Rolle, andere Faktoren können
Einfluss nehmen, aber die Fragilität ist ohne Zweifel gegeben.
Eine Erhöhung
der Zinsen durch die Zentralbank der Türkei bremst möglicherweise die
Abwertung, löst aber das Problem nicht, verschiebt es lediglich. Eine
Zinserhöhung würde den Konjunktureinbruch vertiefen und den Konsum abwürgen.
Die Kaufkraft der Privathaushalte ist begrenzt. Für Haushalte, die ihren Konsum
mit Krediten finanzieren, und das sind sehr viele, hat eine Erhöhung eine bremsende
oder verhindernde Wirkung. Dass sich dies wiederum negativ auf die Unternehmen
auswirkt, ist klar. Das heißt, das Modell steckt in einer Zwickmühle.
Wie abhängig ist die türkische Ökonomie von westlichen
Investoren?
EB: Dass das Modell
trotz zunehmender Probleme aufrechterhalten werden kann, hängt mit der
Geldpolitik in den Zentrumsländern zusammen. Um die globale Akkumulationskrise
zu bekämpfen und um bestimmte Kapitalgruppen zu finanzieren („zu retten“), pumpen
die Zentralbanken Geld in die Märkte und halten die Zinsen nahe Null, teils
liegen diese sogar faktisch unter Null. Solange dies so ist, fließt trotz
steigender Risiken weiterhin Kapital in die Türkei. Die Gewinnaussichten
überwiegen weiterhin. Aber durch eine Zinserhöhung in den Zentrumsländern,
durch einen Abzug kurzfristiger Anlagen oder ein langfristiges Ausbleiben von
Kapitalzuflüssen würde eine Finanzkrise ausgelöst werden.
Mit
fortschreitender Zeit wächst im Übrigen die potentielle Wucht der Krise, nichts
anderes bedeutet die stetige Zunahme des Schuldenvolumens in der Türkei.
Welche Erwartungen stellen internationale Anleger an die
Türkei?
EB: Jenseits
besonderer Erwartungen an die Türkei erwarten Anleger, dass ihr Kapital sicher
ist und selbstverständlich, dass es ich vermehrt. Was auch immer dafür nötig
ist, soll getan werden. Werktätige, die keine Rechte fordern, die Arbeitsunfälle
mit Krankheits- oder Todesfolge nicht mangelhaften Vorkehrungen, sondern dem Schicksal
zuschreiben, erfüllen ideale Erwartungen; eine Bevölkerung, die Privatisierungen
von natürlichen Ressourcen und Gemeineigentum hinnimmt, auch. Bei
Kreditausfällen in Folge einer Krise und bei Unternehmenspleiten erwarten
internationale Anleger, dass die Öffentlichkeit die Rückzahlung der Schulden übernimmt.
Von der Regierung wird erwartet, dass sie das umsetzt. Kurz gefasst, erwarten
sie eine Absicherung ihrer Investitionen und die Erschließung neuer Bereiche.
Kann die Türkei unter den gegebenen Umständen sowohl die
politischen als auch die ökonomischen Erwartungen europäischer und deutscher
Investoren langfristig erfüllen?
EB: Die Zukunft der
EU ist ungewiss, in den USA macht sich eine faschistische Tendenz bemerkbar, im
Nahen Osten herrscht Krieg. In diesen Zeiten ist es schwieriger als sonst,
langfristige Voraussagen zu treffen. Zumindest verspricht die Regierung, die
Erwartungen zu erfüllen. Ihre Grundausrichtung – die Beschneidung von Rechten
der Werktätigen, die sie mittels kultureller Polarisierung (Nationalismus,
Konfessionalismus) gegeneinander aufbringt; die Erschließung von Gemeineigentum
für das Kapital; Privatisierungen und Transfer von Lohnanteilen an Investoren
über Renten- und Vermögensfonds; Förderung individualistischer auf Kosten von
solidarischen Praktiken – deckt sich mit derjenigen von internationalen
Investoren.
Wie haben deutsche und europäische Anleger auf den
Putschversuch in der Türkei, insbesondere auf dem Geldmarkt reagiert?
EB: Nach dem
Putschversuch ergriff die Regierung umgehend Initiative, indem sie ausgewählte
Vertreter internationaler Anleger zu einem Briefing einberief, auf dem sie
verkündete, dass sie jede Maßnahme ergreifen werde, die Märkte vor Turbulenzen
zu schützen. Das scheint gewirkt zu haben, die Unruhe legte sich sehr bald.
Aber, wie angesprochen, es schwelt eine unabhängige Krisendynamik.
Die Deutsch-Türkische Industrie- und Handelskammer hat
erklärt, dass das Jahr 2016 ein sehr zufriedenstellendes Jahr für deutsche
Investoren in der Türkei gewesen sei. Teilen Sie diese Einschätzung?
EB: Trotz des
Gepolters auf der politischen Bühne scheinen die Beziehungen im Handel und bei
Investitionen intakt. Nach dem Putschversuch mag es Störungen bei bürokratischen
Abläufen gegeben haben, manche Geschäftspartner sind möglicherweise
abhandengekommen, aber das scheint die Bedeutung der Türkei für deutsche
Investoren als Markt, als Investitionsraum und als Standort, der sich gen Osten
und Süden öffnet, nicht beeinträchtigt zu haben.
In Verbindung mit ihrer geographischen Lage zwischen den
Kontinenten kommt der Türkei eine wichtige geopolitische Position zu. Historisch
nimmt sie eine Brückenfunktion für internationale Anleger ein. Gilt sie heute immer
noch als wichtiger und auch sicherer Hafen?
EB: Wichtig klar;
Hunderte Milliarden Dollar internationales Kapital sind in der Türkei angelegt
beziehungsweise fixiert. In Bezug auf die Sicherheit… Es gab schon mehrere
Putsche, seit bald 35 Jahren herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände. Der
letzte Putschversuch, die Diktatur und selbst die an Faschismus gemahnenden
Tendenzen, Krieg und Zerfall der südlichen Nachbarländer scheinen die
Investoren nicht besonders abgeschreckt zu haben.
Haben sich die politischen und ökonomischen Turbulenzen
in der Türkei, der Krieg und die Leugnungspolitik gegen die kurdische
Bevölkerung gar nicht auf die deutschen und europäischen Anleger ausgewirkt?
EB: Im Zusammenhang
mit dem Krieg und der Unterdrückung, allgemeiner den Menschenrechten lässt sich
nicht erkennen, dass Anleger eine Sensibilität aufweisen oder sich dies
praktisch niederschlägt. Wenn das bei Einem der Fall wäre, käme ein Anderer und
würde ihn ersetzen. So läuft Kapitalismus. So lange es keinen Druck gibt, wird
sich daran auch nichts ändern. Im Hinblick auf die Repression gibt es ja Initiativen,
aber dass die Rolle von Investoren hinterfragt wird, ist mir noch nicht
begegnet.
Der Finanzminister Mehmet Şimşek hat kürzlich erklärt,
dass das Handelsvolumen zwischen der Türkei und den Vereinigten Arabischen
Emiraten im vergangenen Jahr um 36 % gestiegen sei. Kann ein solcher Ausbau der
Beziehungen mit einem arabischen Land damit zusammenhängen, dass sich westliche
Investoren aus der Türkei zurückziehen?
EB: Ich weiß nicht,
wodurch genau es zu diesem Anstieg gekommen ist. Es muss sich auch erst
erweisen, ob es ein einmaliger Effekt ist oder ein dauerhafter Trend. In
absoluten Zahlen besteht aber ein niedriges Handelsvolumen zwischen den beiden
Ländern, so dass man den prozentualen Anstieg nicht überbewerten sollte.
Die Meinung,
westliche Investoren zögen sich aus der Türkei zurück, ist sehr verbreitet.
Obwohl die Investoren selbst sagen, dass das nicht so ist. Außerdem sind die
Absenkung der Kreditnote und die anderen Entwicklungen ja nicht nur für
westliche Investoren relevant, sie müssen von allen Investoren, egal welcher
Herkunft, berücksichtigt werden. Die hartnäckige Annahme, dem sei nicht so,
hängt anscheinend mit einer Vereindeutigung politischer Turbulenzen wie auch
mit einer Idealisierung zusammen, wonach westliche Investoren rational und
berechnend, andere dagegen irrational handeln.
Wie auch immer,
schauen wir uns die Daten des Türkischen Statistischen Instituts an. Inklusive
der Daten für 2016 ergibt sich folgendes Bild: Der Anteil des Westens
(hauptsächlich EU und USA) am Handelsvolumen ist nicht gefallen. Er ist in den
letzten Jahren kontinuierlich gestiegen und liegt bei über 50 %. Der Anteil der
Länder des Nahen und Mittleren Ostens am Handelsvolumen schrumpft dagegen seit
einigen Jahren und liegt bei etwa 13 %. Nur im vergangenen Jahr ist er leicht gestiegen,
liegt aber weit unter dem Niveau von 2012. Was normal ist, da Krieg herrscht.
Ziehen wir
andere Daten hinzu: Die Direktinvestitionen in die Türkei stammen zu 80-85 % aus
dem Westen, ebenso ausländische Kredite, sie kommen zu etwa 80 % aus dem
Westen. Diese Zahlen sind seit fünfzehn Jahren, also seitdem die AKP regiert,
ziemlich konstant. In allen Bereichen liegt Deutschland ganz vorne. Noch eine
Statistik: Welche Länder bevorzugen türkische Anleger, wenn sie im Ausland
investieren? Ganz deutlich westliche.
Einen dunklen
Punkt gibt es: In den Bilanzen taucht eine hohe Summe Geld auf, das in die
Türkei fließt, dessen Herkunft aber nicht bekannt ist oder nicht bekannt gemacht
wird. Es macht keinen Unterschied ums Ganze aus, ist aber hoch genug, um eine mäßigende
Wirkung auf das Defizit in der Zahlungsbilanz auszuüben. Es gibt Gerüchte, das
Geld stamme aus arabischen Ländern, es sind aber Gerüchte, die sich nicht
bestätigen lassen. Das Geld könnte auch sonst woher kommen. Jedenfalls lässt
sich auf der Grundlage ökonomischer Daten nicht behaupten, dass die Türkei sich
gen Osten wendet oder von dort ein ungewöhnliches Interesse an der Türkei
besteht.