Donnerstag, 25. Juni 2015

Die Türkei nach den Wahlen – Politischer Autoritarismus und kapitalistische Dynamiken

Von Errol Babacan

Das Scheitern des Präsidialsystems bedeutet noch keine demokratische Wende. Der Autoritarismus ist in den kapitalistischen Dynamiken verwurzelt. Die etablierten Parteien versprechen Kontinuität. Ob der Erfolg der HDP einen Schritt zur Unterbrechung darstellen kann, steht zu befragen.

Die seit dreizehn Jahren regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP hat ihre primären Wahlziele verfehlt. Eine Mehrheit für das Projekt Präsidialsystem ist nicht zustande gekommen. Selbst für eine Regierungsbildung reichen die erzielten 40,9 Prozent nicht. Die parlamentarische 10-Prozent-Hürde konnte diesmal nicht verhindern, dass neben der Republikanischen Volkspartei CHP (25 Prozent) und der Nationalistischen Bewegungspartei MHP (16,3 Prozent) auch die Demokratische Partei der Völker HDP (13,1 Prozent) ins Parlament einziehen wird. Nahezu alle Mandate aus der kurdischen Region gingen an die HDP. Sie fehlen der AKP. Indes steht vorbehaltlich von Neuwahlen eine Koalitionsbildung an, die eine weitere Beteiligung der AKP an der Regierung verspricht.

Nach der Wahl kommen nun vermehrt Analysen auf, die die autoritäre Entwicklung mit persönlichen Ambitionen des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erklären. Infolge des von ihm vorangetriebenen Präsidialsystems wurde eine Ein-Mann-Diktatur befürchtet. Das vorläufige Scheitern und die mögliche Zurückdrängung dieser Ambitionen gelten bereits als eine Wende. Diese Erwartung blendet aus, dass der politische Autoritarismus eine Wurzel in der kapitalistischen Akkumulation hat, deren Dynamik über den Präsidenten, die AKP und die Türkei hinaus wirkt. Die etablierten Parteien versprechen eine Kontinuität dieser Dynamik. Ob die HDP, oftmals als linkes Bewegungsbündnis in einem Atemzug mit Syriza genannt, einen Schritt zur Unterbrechung dieser Dynamik darstellen kann, steht zu befragen.

Hegemonie, keine Demokratie

Das Modell Präsidialsystem ist auch innerhalb der AKP umstritten. Der Entwurf aus dem Jahr 2012 sieht vor, das Präsidentenamt zu einem exekutiven Machtzentrum auszubauen, das mit Sonderbefugnissen wie der Auflösung des Parlaments, der Ernennung von Ministern und dem Erlass von Dekreten ausgestattet ist. Der Präsident stünde über dem Parlament und der Regierung. Die formale Gewaltenteilung wäre erheblich eingeschränkt. Staatspräsident Erdoğan rührte auf seiner Wahlkampftour - unter Verletzung der verfassungsrechtlich festgeschriebenen Neutralität seines Amtes - die Werbetrommel für das System. Andere Führungsfiguren der Partei zeigten sich weniger begeistert und beeilten sich, das Modell unmittelbar nach den Wahlen für gescheitert zu erklären.

Personalisierende Erklärungsansätze sehen den Antrieb für dieses Projekt in Erdoğan selbst, dem die Macht zu Kopf gestiegen sei und der nach der totalen Herrschaft greife. Weitergehend wird angeführt, dass er sich gegen Korruptionsvorwürfe abzusichern und den ihm drohenden tiefen Fall durch weitere Machtanhäufung abzuwenden versuche. Der mediale Zuschnitt von Politik auf Personen beziehungsweise Führungstypen befördert die Popularität solcher Erklärungen. Sie warten mit einfachen Lösungen auf, indem sie nach neuen, charakterfesteren Typen rufen, die nicht korrumpierbar sind. Der vormalige Präsident Abdullah Gül, langjähriger Weggefährte Erdoğans, gilt als ein solcher Typ, nach dem jetzt im In- und Ausland gerufen wird.

Sicherlich hat Erdoğan Korruptionsermittlungen zu befürchten. Möglicherweise ist er machttrunken. Doch lassen sich die Probleme in der Türkei wirklich damit erklären? Ein Rückblick auf die Aktivitäten der AKP und der inzwischen von ihr abgefallenen Verbündeten spricht dagegen. Zunächst gilt zu bemerken, dass etliche der heutigen Rufer nach Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit diese Sorge nicht teilten, als die halbe Militärführung mit offenkundig fingierten Beweisen durch eine von der AKP politisch gelenkte Justiz unter Putschverdacht gestellt wurde. Getragen von der Überzeugung, der Autoritarismus könne nur vom Militär ausgehen, wurde geschwiegen, als die Regierung oppositionelle Regungen auf der Straße und in den Betrieben repressiv bekämpfte und nahezu den gesamten Aktivenkreis der kurdischen Bewegung inhaftieren ließ.

Als die AKP-Regierung 2011 über sechs Monate die parlamentarische Kontrolle umging und per Dekret regierte, erfolgte ebenfalls kein Aufschrei. Während die wenigen kritischen Stimmen aus dem linken Spektrum damals ungehört verhallten, war weder aus dem liberalen Spektrum noch seitens der sich heute besorgt gebenden EU und USA sowie der internationalen Investoren Kritik zu hören. Dass diese nun auf Abdullah Gül setzen, legt abermals ihren Horizont offen. In seiner Rolle als Staatspräsident unterzeichnete Gül jedes antidemokratische Dekret ohne Widerspruch. Vollkommen eigeninitiativ hat er die autoritären Vollmachten seines Amtes ausgeschöpft, beispielsweise bei der Ernennung von Rektoren seiner Wahl gegen die Mehrheitsvoten an den jeweiligen Universitäten.

Nicht zu vergessen ist die Rolle der heute mit der AKP über Kreuz liegenden Gülen-Bewegung, die sich jetzt als Hort demokratischer Opposition präsentiert. Damals hatte sie die repressiven Kampagnen angeleitet, während ihr geistliches Aushängeschild Fethullah Gülen aus seinem US-amerikanischen Domizil physische Vernichtungsdrohungen gegen die kurdische Bewegung verlautbarte.

Die politische Verantwortung für die autoritären Maßnahmen, für die kein Präsidialsystem notwendig war, trägt die gesamte AKP inklusive des Bündnisses, von dem sie getragen wurde. Die Antriebskräfte liegen jedoch tiefer. Eine Verengung der Thematik auf die politische Bühne blendet strukturelle Probleme aus. Sie blendet aus, dass der Autoritarismus der Generäle, den die AKP beenden sollte, keinem Selbstzweck folgte, sondern der Absicherung der neoliberalen Transformation gegen sozialen Widerstand diente. Die AKP stellte sich von Beginn an in diese Kontinuität. Sie blendet aus, dass die durch eine landesweite Protestwelle verhinderte Bebauung des Gezi-Parks vor allem eine Kapitalanlage von Unternehmen darstellte, die mit dem geplanten Einkaufszentrum und den Hotels Profite erwirtschaften wollten. Dass Erdoğan den Eindruck einer persönlichen Marotte erweckte, indem er den Bau in Gestalt einer osmanischen Kaserne zu seinem eigenen Projekt erklärte, macht ihn nicht zum hauptsächlichen Profiteur.

Völlig übersehen wird bei der Verengung des Blicks auf Personen das Anfang des Jahres verhängte Streikverbot in der Metallindustrie, der große europäische und amerikanische Konzerne wie Renault und Ford zusammen mit ihren türkischen Partnern angehören. Die Unternehmer haben kein Problem mit autoritären Maßnahmen, wenn Arbeiter sich organisieren und ihr Streikrecht nutzen. Die Häufung von Arbeitsunfällen nehmen sie ebenso in Kauf wie sie die Privatisierung von Gewässern fordern. Sie suchen nach Investitionsmöglichkeiten, zu denen die Betonierung von Parks, der Bau von Flughäfen, Staudämmen oder Kraftwerken gehört.

Die Regierung ermöglicht diese Investitionen. Den sozialen Widerstand hat sie lange Zeit erfolgreich klein gehalten. Erdoğans besondere Leistung bestand darin, dass er Kritik auf sich gelenkt und auf diese Weise auch noch die eigene Anhängerschaft mobilisiert hat. Die Fokussierung seines Handelns oder allein das der AKP ohne Thematisierung der ökonomischen Hintergründe verdeckt die kapitalistische Ausbeutung und Landnahme und reproduziert somit die Hegemonie der Unternehmer.

Kapitalistische Konkurrenz

In der Opposition zum Präsidialsystem fällt der Widerstand eines gewichtigen Teils der Unternehmer mit einer weit breiteren gesellschaftlichen Opposition zusammen. Mit der Verteidigung des bestehenden parlamentarischen Systems soll die Möglichkeit, durch Wahlen andere Mehrheiten zu erwirken und einen Politikwechsel zu erreichen, offen gehalten werden. Das Präsidialsystem lässt dagegen eine exklusive Vertretung von Interessen zu und das Arrangement mit dem „großen Boss“, wie es in einem abgehörten Telefonat zwischen einem Bauinvestor und einem AKP-Politiker über Erdoğan hieß, wird wichtiger. Eine parlamentarische Demokratie hält mehrere Türen offen.

Sicherlich stehen nach den Wahlen alle Seiten vor der Frage, ob der Staatspräsident Erdoğan sich mit repräsentativen Aufgaben bescheiden wird. Im Laufe seiner knapp einjährigen Amtszeit hat er ein zweites Machtzentrum in Konkurrenz zur Regierung aufgebaut, für das er um Unterstützung warb. Diese fand er bei Verbänden der mittleren und kleinen Betriebe, die sich mehrheitlich für das Präsidialsystem aussprachen. Erdoğan verspricht ihnen politische Protektion, die sie in Konkurrenz zu den international etablierten Monopolen benötigen. Der Unternehmerverband TÜSIAD, der diese Monopole organisiert, denen auch die türkisch-amerikanisch/europäischen Gemeinschaftsunternehmen angehören, stellte sich gegen das Präsidialsystem. Die Mitgliedsunternehmen von TÜSIAD tätigen nach eigenen Angaben 80 Prozent des Exports und 65 Prozent der industriellen Produktion. Sie haben das internationale Kapital auf ihrer Seite und können in der ökonomischen Konkurrenz durch schiere Größe auftrumpfen.

Wird die Auseinandersetzung um das Präsidialsystem und die Gewaltenteilung im Lichte dieser Positionen betrachtet, lässt sich erschließen, dass Kämpfe unter den Unternehmen ausgetragen werden, bei denen es um die politische Form der Organisierung kapitalistischer Konkurrenz geht. Die Differenzen innerhalb der AKP zwischen einem Erdoğan-Lager und einem zweiten Lager, das sich um Abdullah Gül zu bilden versucht, können vor diesem Hintergrund darauf zurückgeführt werden, dass alle Verbände auf die Partei einwirken und dort nach Verbündeten suchen. Jedenfalls sorgte die unter Erdoğans Präsidentschaft entstandene Doppelstruktur für Kompetenzgerangel. Das Wahlergebnis gibt die Richtung der Auflösung dieses Gerangels vor.

Stockende Akkumulation

In einem größeren Zusammenhang steht die Frage, in welche Richtung die Stagnation in der Kapitalakkumulation, die sich in niedrigen Wachstumszahlen ausdrückt, aufgelöst werden kann. Der relative ökonomische Erfolg der AKP in ihren ersten 10 Jahren hing mit einer sehr günstigen globalen Konjunktur zusammen. Kontinuierlicher Zufluss ausländischen Kapitals und eine steigende globale Nachfrage ermöglichten gemeinsam mit einem stabilen Wechselkurs ein hohes Maß an Investitionen, zu denen die Privatisierung öffentlicher Unternehmen, von Infrastruktur und Ressourcen gehört. Durch die Aufnahme von Privatkrediten boomte die inländische Nachfrage. Die Kehrseite ist ein hoher Schuldenstand der Unternehmen und Privathaushalte, der seit zwei Jahren mit einer starken Abwertung der türkischen Lira zusammenfällt.

Für die in ausländischer Währung verschuldeten Unternehmen, die den inländischen Markt bedienen, bedeutet dies, dass sie höhere Gewinne erzielen müssen, um ihre Schulden zu begleichen. Ohne weitere Schuldenaufnahme der Privathaushalte erscheint dies nicht möglich. Erschwerend kommt hinzu, dass die industrielle Produktion maßgeblich auf den Input von Zwischengütern und Rohstoffen aus dem Ausland angewiesen ist. Mit der Abwertung der Lira drückt diese Abhängigkeit verstärkt auf die Bilanzen vieler Unternehmen. Die Stagnation in der globalen Nachfrage weitet diesen Druck auf die exportorientierten Sektoren aus. Sicher ist, dass sich das Ungleichgewicht nicht ewig weiterführen lässt, so dass mit einer Schuldenkrise und einer Pleitewelle zu rechnen ist.

Wo steht die HDP?

Die Ansprüche und der Einfluss der Unternehmerverbände sind gewaltig und es wäre naiv, die politische Entwicklung nicht unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten. So üben die Verbände Druck aus, eine stabile Regierung zu bilden, die neue Wachstumsimpulse setzt. Es stellt sich daher allen Parteien die Frage, wie sie zu diesen Ansprüchen stehen, dem enormen Verwertungsdruck und den Verbindlichkeiten begegnen wollen.

Die sozialen Standpunkte der AKP, der MHP und der CHP sind eindeutig. Zwar stehen sie in Assoziation mit unterschiedlichen Kapitalfraktionen, ihre Offenheit für soziale Kompromisse mit anderen Segmenten der Bevölkerung ist unterschiedlich ausgeprägt, die kulturellen Präferenzen weichen voneinander ab. Grundsätzlich formulieren sie jedoch alle Gestaltungsvorstellungen, die den Ansprüchen der Unternehmen folgen.

Die CHP ist stärker in den Küstenstreifen, die MHP in Mittel- und Westanatolien. Die AKP war dagegen überall stark, bis ihr die HDP in Ostanatolien die Stimmen abnahm. Der gegen Erdoğan gerichtete Kampagnenslogan der HDP „Seni Başkan Yaptırmayacağız“ (sinngemäß: „Du wirst kein Chef“) traf den oppositionellen Nerv der Zeit und gewann aus unterschiedlichen Lagern Sympathien. Der Slogan wirkte wie ein Versprechen und damit der Skepsis entgegen, die kurdische Bewegung – tonangebend in der HDP - könnte einen Deal mit dem Erdoğan-Lager eingehen. Da der Weg zur Verhinderung des Präsidialsystems über den Einzug der HDP ins Parlament verlief, waren sogar aus der CHP und aus TÜSIAD sympathisierende Stimmen zu vernehmen.

Jenseits wahltaktischer Sympathien ist die 2013 gegründete HDP zu einem Bezugspunkt linker Bewegungen geworden, die mit einer Niederlage der AKP die Hoffnung verbanden, dass die Einschränkung von Bürgerrechten gestoppt und das islamisch-konservative Korsett gelockert werden könnte. Vorausgegangen war eine Skepsis gegenüber der kurdischen Bewegung. Vor weniger als zwei Jahren hatte die Bewegung sich von den linken Bewegungen entfernt und in Verhandlungen mit der Regierung aufgeschlossen gegenüber einem Präsidialsystem gezeigt, von dem sie sich im Gegenzug Autonomierechte erhoffte. Die Gezi-Proteste wurden reflexartig als Verschwörung gegen die Verhandlungen interpretiert.

Zu dieser Zeit herrschte in der kurdischen Bewegung allerdings die Überzeugung vor, unverzichtbarer Schlüssel des regionalen Machtanspruchs der AKP-Regierung zu sein. Erst der Aufstieg des militanten Islamismus im Irak und in Syrien bereitete diesen Träumen ein Ende. Als sich die Unterstützung der syrischen Opposition durch eine Allianz aus NATO-Staaten und arabischen Diktaturen in eine Unterstützung jihaddistischer Organisationen verwandelte und gegen die kurdische Bevölkerung im Irak und in Syrien zu richten begann, kippten die Verhandlungen der kurdischen Bewegung mit der AKP. Alarmiert durch den militanten Islamismus und enttäuscht von der nachhaltig feindlichen Haltung der AKP, die bei den jüngsten Wahlen anders als zuvor auch keine kulturellen Zugeständnisse in Aussicht stellte, wandte sich die kurdische Bevölkerung beispiellos geschlossen der HDP zu.

Die kurdische Bewegung, die tendenziell ein links-liberales und säkulares Programm verfolgt, nutzte diese Chance, indem sie die Partei noch stärker in ein populistisches Wahlbündnis verwandelte. Kurdisch-islamistische Intellektuelle mit einem ausgeprägten Konservatismus wurden auf aussichtsreichen Listenplätzen aufgestellt, externe Politiker wie der ehemalige CHP-Bürgermeister aus der Wirtschaftsmetropole Gaziantep und ein prominentes AKP-Mitglied integriert. Die Strategie zahlte sich durch enorme Stimmenzugewinne aus. Die HDP erzielte in 12 Provinzen mehr als 55% der Stimmen und steigerte in vielen anderen Provinzen ihren Stimmenanteil. Insbesondere in den westlichen Großstädten verbuchte sie außerordentlichen Zuspruch, nach Umfragen überwiegend von den kurdischen BinnenmigrantInnen.

Die HDP repräsentiert nun einerseits die kurdische Bevölkerung mit ihren widersprüchlichen Segmenten. Die Integration konservativer Intellektueller stellt eine bewusste Entscheidung zur nationalen Blockbildung dar. Andererseits führt sie diesen Block mit VertreterInnen aus dem grün-liberalen, geschlechter- und friedenspolitischen, sozial-ökologischen und alevitischen Bewegungsspektrum sowie mit weiteren kulturell subalternen Bevölkerungsgruppen zusammen. So versammelt die Partei einen großen Teil des oppositionellen Bewegungspotentials, verleiht diesem eine parlamentarische Sichtbarkeit und einen neuen Handlungsspielraum. Die Gegnerschaft zur AKP, die subalterne Position der kurdischen Ethnie und der Auftrieb durch den politischen Umbruch im syrisch-kurdischen Rojava ermöglichten, widersprüchliche Positionen unter einen Hut zu bringen. Zusammengenommen machen sie es jedoch unmöglich, die HDP als eindeutig linkes Bewegungsbündnis zu fassen. Die Prioritäten sind durch die Breite des Bündnisses eher verschwommener als deutlicher geworden.

Wohin diese Breite führen kann, zeigte sich in der vergangenen Wahlperiode, als zwei Abgeordnete der Partei für Frieden und Demokratie BDP, Vorgängerin der HDP, „aus Rücksicht auf die religiösen Gefühle des Volkes“ für die islamisch-konservative Schulreform der AKP stimmten. Andere Abgeordnete der BDP lehnten die Reform ab, weil sie keine Zugeständnisse an die kurdische Bevölkerung enthielt. Der soziale Inhalt der Reform interessierte dagegen kaum. Dieser bestand darin, das Alter für den Eintritt in den Arbeitsmarkt und für die arbeitsteilige Trennung in Kopf- und Handarbeit zu senken. Der Protest auf der Straße reichte nicht aus, die BDP, die auch damals schon linke Abgeordnete integriert hatte, zu einer geschlossenen sozial-kritischen Haltung zu bewegen.

Der historisch-spezifische Bündnischarakter drückt sich schließlich darin aus, dass die Partei jenseits individueller Initiativen über keine gemeinsame beziehungsweise strategische Perspektive verfügt, wie eine linke Alternative aufgebaut werden soll, die eine Unterbrechung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses beinhaltet. Das schwächste Glied in der strategischen Kette bildet die Frage der materiellen gesellschaftlichen Reproduktion. Sie ist ein vernachlässigter Nebenschauplatz des mit „radikaler Demokratie“ etikettierten Populismus.

In den inzwischen seit mehr als einer Dekade von der kurdischen Bewegung (mit-)regierten Städten haben sich die kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion durchgesetzt. Der libertär-kommunalistische Anspruch bleibt auf dem Papier und selbst die ansatzweise Förderung kleinteiliger und kooperativer Produktion wird gegen den Widerstand des Kleinhandels nicht durchgesetzt. Indes zeigt die Bezugslosigkeit gegenüber den jüngsten Streiks in den Fabriken im Westen der Türkei ein weiteres Mal die Distanz zwischen Kämpfen der ArbeiterInnen und den vorhandenen gewerkschaftlichen wie politischen Organisationen auf, die auch von der HDP bisher nicht überbrückt werden konnte.

Die entstehungsgeschichtliche Verwurzelung der kurdischen Befreiungsbewegung in der unterdrückten Bauernschaft und einer globalen sozialistischen Konjunktur sorgen auch heute noch dafür, dass das Unternehmertum in Kurdistan sich mäßigen und anbiedern muss. Bleiben der Libertinismus und die ethnische Befreiung jedoch ohne eine Perspektive sozialer und ökonomischer Gleichheit, verwandeln sie sich in das Versprechen auf individuelle Bewegungsfreiheiten und Nationalismus und werden zur Chance für eine unternehmerische Perspektive, auch in Kurdistan zur unumstrittenen Orientierung zu werden. Die zwischenzeitliche Sympathie für ein Präsidialsystem und Integration in regionalpolitische Pläne der AKP, die Passivität in der Umsetzung des Kommunalismus gegenüber der kommunalen Realpolitik reihen sich in diese Aussicht ein.

Ausblick

Der politische Autoritarismus ist in der kapitalistischen Akkumulation verwurzelt, die sich in Form von Privatisierungen, Großprojekten und Eroberungsdrang ausländischer Märkte und Ressourcen zeigt. Mit ihnen geht die Repression gegenüber kollektiven Rechten und der Abbau sozialer Errungenschaften, der Raubbau an der Natur und Krieg einher. Der außerordentliche Irrtum der Liberalen, die die AKP für eine demokratische Partei gehalten und über eine lange Dekade gegen jede Kritik blind verteidigt haben, liegt auch in ihrer Ignoranz gegenüber diesem Zusammenhang begründet. Die jetzt betriebene Engführung auf Erdoğan und die politische Bühne beharrt auf diesem Irrtum.


Nach den Wahlen besteht das kollektive Ziel der Unternehmerverbände in einer politischen Formel, die ökonomische Wachstumsimpulse setzt und einen Ausweg aus der stagnierenden Akkumulation findet. Zur Stärkung einer sozial-ökologischen und friedenspolitischen Orientierung bedarf es einer entgegengesetzten Strategie, die die demokratische Opposition zum politischen Autoritarismus mit einer Alternative zur dominanten Form der materiellen gesellschaftlichen Reproduktion verbindet.