Von Errol Babacan
Das Scheitern des Präsidialsystems
bedeutet noch keine demokratische Wende. Der Autoritarismus ist in den
kapitalistischen Dynamiken verwurzelt. Die etablierten Parteien versprechen Kontinuität.
Ob der Erfolg der HDP einen Schritt zur Unterbrechung darstellen kann, steht zu
befragen.
Die seit dreizehn Jahren regierende Partei
für Gerechtigkeit und Entwicklung AKP hat ihre primären Wahlziele verfehlt. Eine
Mehrheit für das Projekt Präsidialsystem ist nicht zustande gekommen. Selbst
für eine Regierungsbildung reichen die erzielten 40,9 Prozent nicht. Die parlamentarische
10-Prozent-Hürde konnte diesmal nicht verhindern, dass neben der
Republikanischen Volkspartei CHP (25 Prozent) und der Nationalistischen
Bewegungspartei MHP (16,3 Prozent) auch die Demokratische Partei der Völker HDP
(13,1 Prozent) ins Parlament einziehen wird. Nahezu alle Mandate aus der
kurdischen Region gingen an die HDP. Sie fehlen der AKP. Indes steht
vorbehaltlich von Neuwahlen eine Koalitionsbildung an, die eine weitere
Beteiligung der AKP an der Regierung verspricht.
Nach der Wahl kommen nun vermehrt
Analysen auf, die die autoritäre Entwicklung mit persönlichen Ambitionen des
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan erklären. Infolge des von ihm vorangetriebenen
Präsidialsystems wurde eine Ein-Mann-Diktatur befürchtet. Das vorläufige
Scheitern und die mögliche Zurückdrängung dieser Ambitionen gelten bereits als eine
Wende. Diese Erwartung blendet aus, dass der politische Autoritarismus eine
Wurzel in der kapitalistischen Akkumulation hat, deren Dynamik über den
Präsidenten, die AKP und die Türkei hinaus wirkt. Die etablierten Parteien
versprechen eine Kontinuität dieser Dynamik. Ob die HDP, oftmals als linkes
Bewegungsbündnis in einem Atemzug mit Syriza genannt, einen Schritt zur
Unterbrechung dieser Dynamik darstellen kann, steht zu befragen.
Hegemonie,
keine Demokratie
Das Modell Präsidialsystem ist auch
innerhalb der AKP umstritten. Der Entwurf aus dem Jahr 2012 sieht vor, das
Präsidentenamt zu einem exekutiven Machtzentrum auszubauen, das mit Sonderbefugnissen
wie der Auflösung des Parlaments, der Ernennung von Ministern und dem Erlass
von Dekreten ausgestattet ist. Der Präsident stünde über dem Parlament und der
Regierung. Die formale Gewaltenteilung wäre erheblich eingeschränkt. Staatspräsident
Erdoğan rührte auf seiner Wahlkampftour - unter Verletzung der
verfassungsrechtlich festgeschriebenen Neutralität seines Amtes - die
Werbetrommel für das System. Andere Führungsfiguren der Partei zeigten sich
weniger begeistert und beeilten sich, das Modell unmittelbar nach den Wahlen
für gescheitert zu erklären.
Personalisierende Erklärungsansätze sehen
den Antrieb für dieses Projekt in Erdoğan selbst, dem die Macht zu Kopf
gestiegen sei und der nach der totalen Herrschaft greife. Weitergehend wird
angeführt, dass er sich gegen Korruptionsvorwürfe abzusichern und den ihm
drohenden tiefen Fall durch weitere Machtanhäufung abzuwenden versuche. Der
mediale Zuschnitt von Politik auf Personen beziehungsweise Führungstypen
befördert die Popularität solcher Erklärungen. Sie warten mit einfachen
Lösungen auf, indem sie nach neuen, charakterfesteren Typen rufen, die nicht
korrumpierbar sind. Der vormalige Präsident Abdullah Gül, langjähriger
Weggefährte Erdoğans, gilt als ein solcher Typ, nach dem jetzt im In- und
Ausland gerufen wird.
Sicherlich hat Erdoğan Korruptionsermittlungen
zu befürchten. Möglicherweise ist er machttrunken. Doch lassen sich die Probleme
in der Türkei wirklich damit erklären? Ein Rückblick auf die Aktivitäten der
AKP und der inzwischen von ihr abgefallenen Verbündeten spricht dagegen. Zunächst
gilt zu bemerken, dass etliche der heutigen Rufer nach Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit diese Sorge nicht teilten, als die halbe Militärführung mit offenkundig
fingierten Beweisen durch eine von der AKP politisch gelenkte Justiz unter
Putschverdacht gestellt wurde. Getragen von der Überzeugung, der Autoritarismus
könne nur vom Militär ausgehen, wurde geschwiegen, als die Regierung oppositionelle
Regungen auf der Straße und in den Betrieben repressiv bekämpfte und nahezu den
gesamten Aktivenkreis der kurdischen Bewegung inhaftieren ließ.
Als die AKP-Regierung 2011 über sechs
Monate die parlamentarische Kontrolle umging und per Dekret regierte, erfolgte ebenfalls kein Aufschrei. Während die wenigen
kritischen Stimmen aus dem linken Spektrum damals ungehört verhallten, war
weder aus dem liberalen Spektrum noch seitens der sich heute besorgt gebenden
EU und USA sowie der internationalen Investoren Kritik zu hören. Dass diese nun
auf Abdullah Gül setzen, legt abermals ihren Horizont
offen. In seiner Rolle als Staatspräsident unterzeichnete Gül jedes
antidemokratische Dekret ohne Widerspruch. Vollkommen eigeninitiativ hat er die
autoritären Vollmachten seines Amtes ausgeschöpft, beispielsweise bei der
Ernennung von Rektoren seiner Wahl gegen die Mehrheitsvoten an den jeweiligen
Universitäten.
Nicht zu vergessen ist die Rolle der
heute mit der AKP über Kreuz liegenden Gülen-Bewegung,
die sich jetzt als Hort demokratischer Opposition präsentiert. Damals hatte sie
die repressiven Kampagnen angeleitet, während ihr geistliches Aushängeschild
Fethullah Gülen aus seinem US-amerikanischen Domizil physische
Vernichtungsdrohungen gegen die kurdische Bewegung verlautbarte.
Die politische Verantwortung für die
autoritären Maßnahmen, für die kein Präsidialsystem notwendig war, trägt die
gesamte AKP inklusive des Bündnisses, von dem sie getragen wurde. Die Antriebskräfte
liegen jedoch tiefer. Eine Verengung der Thematik auf die politische Bühne blendet
strukturelle Probleme aus. Sie blendet aus, dass der Autoritarismus der Generäle,
den die AKP beenden sollte, keinem Selbstzweck folgte, sondern der Absicherung
der neoliberalen Transformation gegen sozialen Widerstand diente. Die AKP stellte
sich von Beginn an in diese Kontinuität. Sie blendet aus, dass die durch eine
landesweite Protestwelle verhinderte Bebauung des Gezi-Parks vor allem eine
Kapitalanlage von Unternehmen darstellte, die mit dem geplanten Einkaufszentrum
und den Hotels Profite erwirtschaften wollten. Dass Erdoğan den Eindruck einer
persönlichen Marotte erweckte, indem er den Bau in Gestalt einer osmanischen
Kaserne zu seinem eigenen Projekt erklärte, macht ihn nicht zum hauptsächlichen
Profiteur.
Völlig übersehen wird bei der Verengung
des Blicks auf Personen das Anfang des Jahres verhängte Streikverbot in der
Metallindustrie, der große europäische und amerikanische Konzerne wie Renault
und Ford zusammen mit ihren türkischen Partnern angehören. Die Unternehmer haben
kein Problem mit autoritären Maßnahmen, wenn Arbeiter sich organisieren und ihr
Streikrecht nutzen. Die Häufung von Arbeitsunfällen nehmen sie ebenso in Kauf
wie sie die Privatisierung von Gewässern fordern. Sie suchen nach Investitionsmöglichkeiten,
zu denen die Betonierung von Parks, der Bau von Flughäfen, Staudämmen oder Kraftwerken
gehört.
Die Regierung ermöglicht diese Investitionen.
Den sozialen Widerstand hat sie lange Zeit erfolgreich klein gehalten. Erdoğans
besondere Leistung bestand darin, dass er Kritik auf sich gelenkt und auf diese
Weise auch noch die eigene Anhängerschaft mobilisiert hat. Die Fokussierung
seines Handelns oder allein das der AKP ohne Thematisierung der ökonomischen
Hintergründe verdeckt die kapitalistische Ausbeutung und Landnahme und
reproduziert somit die Hegemonie der Unternehmer.
Kapitalistische
Konkurrenz
In der Opposition zum Präsidialsystem
fällt der Widerstand eines gewichtigen Teils der Unternehmer mit einer weit
breiteren gesellschaftlichen Opposition zusammen. Mit der Verteidigung des
bestehenden parlamentarischen Systems soll die Möglichkeit, durch Wahlen andere
Mehrheiten zu erwirken und einen Politikwechsel zu erreichen, offen gehalten
werden. Das Präsidialsystem lässt dagegen eine exklusive Vertretung von
Interessen zu und das Arrangement mit dem „großen Boss“, wie es in einem
abgehörten Telefonat zwischen einem Bauinvestor und einem AKP-Politiker über
Erdoğan hieß, wird wichtiger. Eine parlamentarische Demokratie hält mehrere
Türen offen.
Sicherlich stehen nach den Wahlen alle
Seiten vor der Frage, ob der Staatspräsident Erdoğan sich mit repräsentativen
Aufgaben bescheiden wird. Im Laufe seiner knapp einjährigen Amtszeit hat er ein
zweites Machtzentrum in Konkurrenz zur Regierung aufgebaut, für das er um
Unterstützung warb. Diese fand er bei Verbänden der mittleren und kleinen
Betriebe, die sich mehrheitlich für das Präsidialsystem aussprachen. Erdoğan
verspricht ihnen politische Protektion, die sie in Konkurrenz zu den international
etablierten Monopolen benötigen. Der Unternehmerverband TÜSIAD, der diese
Monopole organisiert, denen auch die türkisch-amerikanisch/europäischen Gemeinschaftsunternehmen
angehören, stellte sich gegen das Präsidialsystem. Die Mitgliedsunternehmen von
TÜSIAD tätigen nach eigenen Angaben 80 Prozent des Exports und 65 Prozent der
industriellen Produktion. Sie haben das internationale Kapital auf ihrer Seite
und können in der ökonomischen Konkurrenz durch schiere Größe auftrumpfen.
Wird die Auseinandersetzung um das
Präsidialsystem und die Gewaltenteilung im Lichte dieser Positionen betrachtet,
lässt sich erschließen, dass Kämpfe unter den Unternehmen ausgetragen werden,
bei denen es um die politische Form der Organisierung kapitalistischer
Konkurrenz geht. Die Differenzen innerhalb der AKP zwischen einem Erdoğan-Lager
und einem zweiten Lager, das sich um Abdullah Gül zu bilden versucht, können
vor diesem Hintergrund darauf zurückgeführt werden, dass alle Verbände auf die
Partei einwirken und dort nach Verbündeten suchen. Jedenfalls sorgte die unter
Erdoğans Präsidentschaft entstandene Doppelstruktur für Kompetenzgerangel. Das
Wahlergebnis gibt die Richtung der Auflösung dieses Gerangels vor.
Stockende
Akkumulation
In einem größeren Zusammenhang steht
die Frage, in welche Richtung die Stagnation in der Kapitalakkumulation, die
sich in niedrigen Wachstumszahlen ausdrückt, aufgelöst werden kann. Der
relative ökonomische Erfolg der AKP in ihren ersten 10 Jahren hing mit einer
sehr günstigen globalen Konjunktur zusammen. Kontinuierlicher Zufluss ausländischen Kapitals und
eine steigende globale Nachfrage ermöglichten gemeinsam mit einem stabilen
Wechselkurs ein hohes Maß an Investitionen, zu denen die Privatisierung
öffentlicher Unternehmen, von Infrastruktur und Ressourcen gehört. Durch die
Aufnahme von Privatkrediten boomte die inländische Nachfrage. Die Kehrseite ist
ein hoher Schuldenstand der Unternehmen und Privathaushalte, der seit zwei
Jahren mit einer starken Abwertung
der türkischen Lira zusammenfällt.
Für die in ausländischer Währung
verschuldeten Unternehmen, die den inländischen Markt bedienen, bedeutet dies, dass
sie höhere Gewinne erzielen müssen, um ihre Schulden zu begleichen. Ohne
weitere Schuldenaufnahme der Privathaushalte erscheint dies nicht möglich. Erschwerend
kommt hinzu, dass die industrielle Produktion maßgeblich auf den Input von
Zwischengütern und Rohstoffen aus dem Ausland angewiesen ist. Mit der Abwertung
der Lira drückt diese Abhängigkeit verstärkt auf die Bilanzen vieler
Unternehmen. Die Stagnation in der globalen Nachfrage weitet diesen Druck auf
die exportorientierten Sektoren aus. Sicher ist, dass sich das Ungleichgewicht
nicht ewig weiterführen lässt, so dass mit einer Schuldenkrise und einer
Pleitewelle zu rechnen ist.
Wo
steht die HDP?
Die Ansprüche und der Einfluss der Unternehmerverbände
sind gewaltig und es wäre naiv, die politische Entwicklung nicht unter diesem
Gesichtspunkt zu betrachten. So üben die Verbände Druck aus, eine stabile
Regierung zu bilden, die neue Wachstumsimpulse setzt. Es stellt sich daher
allen Parteien die Frage, wie sie zu diesen Ansprüchen stehen, dem enormen
Verwertungsdruck und den Verbindlichkeiten begegnen wollen.
Die sozialen Standpunkte der AKP, der
MHP und der CHP sind eindeutig. Zwar stehen sie in Assoziation mit
unterschiedlichen Kapitalfraktionen, ihre Offenheit für soziale Kompromisse mit
anderen Segmenten der Bevölkerung ist unterschiedlich ausgeprägt, die
kulturellen Präferenzen weichen voneinander ab. Grundsätzlich formulieren sie
jedoch alle Gestaltungsvorstellungen, die den Ansprüchen der Unternehmen folgen.
Die CHP ist stärker in den
Küstenstreifen, die MHP in Mittel- und Westanatolien. Die AKP war dagegen
überall stark, bis ihr die HDP in Ostanatolien
die Stimmen abnahm. Der gegen Erdoğan gerichtete Kampagnenslogan der HDP „Seni
Başkan Yaptırmayacağız“ (sinngemäß: „Du wirst kein Chef“) traf den
oppositionellen Nerv der Zeit und gewann aus unterschiedlichen Lagern
Sympathien. Der Slogan wirkte wie ein Versprechen und damit der Skepsis
entgegen, die kurdische Bewegung – tonangebend in der HDP - könnte einen Deal
mit dem Erdoğan-Lager eingehen. Da der Weg zur Verhinderung des
Präsidialsystems über den Einzug der HDP ins Parlament verlief, waren sogar aus
der CHP und aus TÜSIAD sympathisierende Stimmen zu vernehmen.
Jenseits wahltaktischer Sympathien
ist die 2013 gegründete HDP zu einem Bezugspunkt linker Bewegungen geworden,
die mit einer Niederlage der AKP die Hoffnung verbanden, dass die Einschränkung
von Bürgerrechten gestoppt und das islamisch-konservative Korsett gelockert
werden könnte. Vorausgegangen war eine Skepsis gegenüber der kurdischen
Bewegung. Vor weniger als zwei Jahren hatte die Bewegung sich von den linken
Bewegungen entfernt und in Verhandlungen mit der Regierung aufgeschlossen
gegenüber einem Präsidialsystem gezeigt, von dem sie sich im Gegenzug
Autonomierechte erhoffte. Die Gezi-Proteste wurden reflexartig als Verschwörung
gegen die Verhandlungen interpretiert.
Zu dieser Zeit herrschte in der
kurdischen Bewegung allerdings die Überzeugung vor, unverzichtbarer Schlüssel
des regionalen Machtanspruchs der AKP-Regierung zu sein. Erst der Aufstieg des
militanten Islamismus im Irak und in Syrien bereitete diesen Träumen ein Ende.
Als sich die Unterstützung der syrischen Opposition durch eine Allianz aus
NATO-Staaten und arabischen Diktaturen in eine Unterstützung jihaddistischer
Organisationen verwandelte und gegen die kurdische Bevölkerung im Irak und in
Syrien zu richten begann, kippten die Verhandlungen der kurdischen Bewegung mit
der AKP. Alarmiert durch den militanten Islamismus und enttäuscht von der nachhaltig
feindlichen Haltung der AKP, die bei den jüngsten Wahlen anders als zuvor auch keine
kulturellen Zugeständnisse in Aussicht stellte, wandte sich die kurdische
Bevölkerung beispiellos geschlossen der HDP zu.
Die kurdische Bewegung, die tendenziell
ein links-liberales und säkulares Programm verfolgt, nutzte diese Chance, indem
sie die Partei noch stärker in ein populistisches Wahlbündnis verwandelte.
Kurdisch-islamistische Intellektuelle mit einem ausgeprägten Konservatismus wurden
auf aussichtsreichen Listenplätzen aufgestellt, externe Politiker wie der
ehemalige CHP-Bürgermeister aus der Wirtschaftsmetropole Gaziantep und ein prominentes
AKP-Mitglied integriert. Die Strategie zahlte sich durch enorme
Stimmenzugewinne aus. Die HDP erzielte in 12 Provinzen mehr als 55% der Stimmen
und steigerte in vielen anderen Provinzen ihren Stimmenanteil. Insbesondere in
den westlichen Großstädten verbuchte sie außerordentlichen Zuspruch, nach Umfragen
überwiegend von den kurdischen BinnenmigrantInnen.
Die HDP repräsentiert nun einerseits die
kurdische Bevölkerung mit ihren widersprüchlichen Segmenten. Die Integration
konservativer Intellektueller stellt eine bewusste Entscheidung zur nationalen
Blockbildung dar. Andererseits führt sie diesen Block mit VertreterInnen aus
dem grün-liberalen, geschlechter- und friedenspolitischen, sozial-ökologischen und
alevitischen Bewegungsspektrum sowie mit weiteren kulturell subalternen
Bevölkerungsgruppen zusammen. So versammelt die Partei einen großen Teil des
oppositionellen Bewegungspotentials, verleiht diesem eine parlamentarische
Sichtbarkeit und einen neuen Handlungsspielraum. Die Gegnerschaft zur AKP, die
subalterne Position der kurdischen Ethnie und der Auftrieb durch den
politischen Umbruch im syrisch-kurdischen Rojava ermöglichten, widersprüchliche
Positionen unter einen Hut zu bringen. Zusammengenommen machen sie es jedoch
unmöglich, die HDP als eindeutig linkes Bewegungsbündnis zu fassen. Die
Prioritäten sind durch die Breite des Bündnisses eher verschwommener als
deutlicher geworden.
Wohin diese Breite führen kann,
zeigte sich in der vergangenen Wahlperiode, als zwei Abgeordnete der Partei für
Frieden und Demokratie BDP, Vorgängerin der HDP, „aus Rücksicht auf die religiösen
Gefühle des Volkes“ für die islamisch-konservative Schulreform der AKP stimmten.
Andere Abgeordnete der BDP lehnten die Reform ab, weil sie keine Zugeständnisse
an die kurdische Bevölkerung enthielt. Der soziale Inhalt der Reform interessierte
dagegen kaum. Dieser bestand darin, das Alter für den Eintritt in den
Arbeitsmarkt und für die arbeitsteilige Trennung in Kopf- und Handarbeit zu
senken. Der Protest auf der Straße reichte nicht aus, die BDP, die auch damals
schon linke Abgeordnete integriert hatte, zu einer geschlossenen
sozial-kritischen Haltung zu bewegen.
Der historisch-spezifische
Bündnischarakter drückt sich schließlich darin aus, dass die Partei jenseits individueller
Initiativen über keine gemeinsame beziehungsweise strategische Perspektive verfügt,
wie eine linke Alternative aufgebaut werden soll, die eine Unterbrechung des
kapitalistischen Akkumulationsprozesses beinhaltet. Das schwächste Glied in der
strategischen Kette bildet die Frage der materiellen gesellschaftlichen
Reproduktion. Sie ist ein vernachlässigter Nebenschauplatz des mit „radikaler
Demokratie“ etikettierten Populismus.
In den inzwischen seit mehr als einer
Dekade von der kurdischen Bewegung (mit-)regierten Städten haben sich die
kapitalistischen Formen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion durchgesetzt.
Der libertär-kommunalistische Anspruch bleibt auf dem Papier und selbst die ansatzweise
Förderung kleinteiliger und kooperativer Produktion wird gegen den Widerstand
des Kleinhandels nicht durchgesetzt. Indes zeigt die Bezugslosigkeit gegenüber den jüngsten
Streiks
in den Fabriken im Westen der Türkei ein weiteres Mal die Distanz zwischen Kämpfen der ArbeiterInnen und den vorhandenen gewerkschaftlichen wie politischen Organisationen auf, die auch von der HDP bisher nicht überbrückt werden konnte.
Die entstehungsgeschichtliche
Verwurzelung der kurdischen Befreiungsbewegung in der unterdrückten
Bauernschaft und einer globalen sozialistischen Konjunktur sorgen auch heute
noch dafür, dass das Unternehmertum in Kurdistan sich mäßigen und anbiedern
muss. Bleiben der Libertinismus und die ethnische Befreiung jedoch ohne eine
Perspektive sozialer und ökonomischer Gleichheit, verwandeln sie sich in das
Versprechen auf individuelle Bewegungsfreiheiten und Nationalismus und werden
zur Chance für eine unternehmerische Perspektive, auch in Kurdistan zur unumstrittenen
Orientierung zu werden. Die zwischenzeitliche Sympathie für ein Präsidialsystem
und Integration in regionalpolitische Pläne der AKP, die Passivität in der
Umsetzung des Kommunalismus gegenüber der kommunalen Realpolitik reihen sich in
diese Aussicht ein.
Ausblick
Der politische Autoritarismus ist in
der kapitalistischen Akkumulation verwurzelt, die sich in Form von
Privatisierungen, Großprojekten und Eroberungsdrang ausländischer Märkte und
Ressourcen zeigt. Mit ihnen geht die Repression gegenüber kollektiven Rechten
und der Abbau sozialer Errungenschaften, der Raubbau an der Natur und Krieg einher.
Der außerordentliche Irrtum der Liberalen, die die AKP für eine demokratische
Partei gehalten und über eine lange Dekade gegen jede Kritik blind verteidigt
haben, liegt auch in ihrer Ignoranz gegenüber diesem Zusammenhang begründet.
Die jetzt betriebene Engführung auf Erdoğan und die politische Bühne beharrt
auf diesem Irrtum.
Nach den Wahlen besteht das
kollektive Ziel der Unternehmerverbände in einer politischen Formel, die
ökonomische Wachstumsimpulse setzt und einen Ausweg aus der stagnierenden Akkumulation
findet. Zur Stärkung einer sozial-ökologischen und friedenspolitischen Orientierung
bedarf es einer entgegengesetzten Strategie, die die demokratische Opposition
zum politischen Autoritarismus mit einer Alternative zur dominanten Form der
materiellen gesellschaftlichen Reproduktion verbindet.