Ein Protest im Stile von Occupy, der sich gegen die Zerstörung eines relativ kleinen Parks richtete, wurde zum Funken landesweiter Demonstrationen in der Türkei. Die Demonstierenden waren nicht nur gegen die geplante Errichtung einer Shopping Mall auf dem Parkgelände. Sehr häufig riefen sie Parolen gegen antidemokratische und wirtschaftsliberale Regierungspolitiken. Seit mehr als 10 Jahren befindet sich die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) an der Regierung, prominente Mitglieder der Partei und ihr Vorsitzender Premierminister Tayyip Erdoğan wurden von den Protestierenden als Verantwortliche dieser Politiken ausgemacht.
Die Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden und ihr lang-anhaltender Widerstand gegen die Polizeikräfte um dem Taksim Platz in İstanbul herum erinnert viele an den Tahir Platz in Ägypten. Manche beginnen bereits vom „Türkischen Frühling“ zu sprechen. Wir können nicht absehen, ob die Demonstrationen in einen „Frühling“ münden. Die Zukunft ist noch ungeschrieben. Nicht desto trotz, können wir sagen, dass die Saat für einen „Frühling“ bereits ausgebracht wurde, und das nicht erst gestern, als die Zusammenstöße mit der Polizei begannen. Das Potential für einen „Frühling“ ist bereits da und tief verwurzelt.
Genau vor zwei Jahren endete in einer kleinen Stadt an Schwarzmeerküste eine friedliche Demonstration gegen die AKP mit Attacken der Polizei auf die Demonstrierenden. Der Protest gegen Wasserkraftwerke in einer landschaftlich reizvollen Region war um die Preis einen toten 54 jährigen Lehrers aufgelöst worden. Metin Lokumcu starb während des Zusammenstoßes mit der Polizei an einer Herzattacke – zu dicht war der Gasnebel, den die Einsatzkräfte versprüht hatten. Über Metin Lokumcu sagte Erdoğan: „Sie sagen, da starb jemand wegen einer Herzattacke; aber ich kenne diesen Menschen nicht.“ Er gab den Demonstrierenden die Schuld an seinem Tod, nicht der massiven Polizeigewalt.
Vergleichbar brutale Übergriffe haben sich seither während vieler Demonstrationen ereignet. Nicht mehr nur primär Kurdisch besiedelten Osten, sondern auch im Westen der Türkei. Insbesondere seit dem Referendum über Verfassungsänderungen im Jahre 2010, scheint die AKP immer häufiger Mittel des Zwangs gegen ihre Gegner_innen einzusetzen. Insgesamt haben die Verfassungsänderungen die Stellung der Partei innerhalb des Machtblocks gefestigt, indem sie ihre Position innerhalb der Staatsapparate stärkte – mittels einer verstärkten Kontrolle der Justiz. Zahlreiche Journalist_innen, kurdische Politiker_innen, viele Sozialwissenschaftler_innen, Gewerkschaft_innen und auch dissidente Studierende sind inhaftiert. Polizeikräfte versuchen fast jede Demonstration von Bedeutung aufzulösen – so auch die in Taksim Gezipark.
In Bezug auf die Türkei haben viele Sozialwissenschaftler_innen die „Erfolge“ der AKP-Regierung den Konsens der Bevölkerung zu gewinnen hervorgehoben. Doch mit diesen Ereignissen ist die repressive Seite der neoliberal-islamistischen Hegemonie deutlicher, als je zuvor, hervorgetreten. Dies gilt insbesondere für Beobachter_innen außerhalb der Türkei, dort haben die Medien den Ereignissen der letzten Jahre kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die Zusammenstöße der letzten Tage haben dies geändert. Und dennoch: Die AKP hat es in den letzten Jahren geschafft, Zustimmung von wichtigen Teilen der türkischen Bevölkerung zu erhalten. Dieses Faktum führte zu ihren zwei Wiederwahlen in 2007 und in 2011. Aber diese Unterstützung ist nicht ohne innere Widersprüche gewesen und hat nie alle Segmente der Bevölkerung umfasst.
Menschen, die die Verheerungen neoliberal-islamistischer (Kommunal) Politiken täglich ertragen müssen, leisten seit ein paar Tagen in Taksin Gezi Park gemeinsam Widerstand gegen ein Projekt der „Stadterneuerung“. Dieses versucht einen öffentlichen Park in ein Shoppingcenter zu verwandeln Dieses soll seinerseits in osmanischen Kasernen untergebracht werden, die dafür eigens an der Stelle des Parks rekonstruiert werden sollen. Dieses Projekt hat einen hohen Symbolcharakter; vereint es doch in sich die rücksichtslose Kommodifizierung und Rationalisierung des urbanen Raumes mit AKP-Politiken einer neo-osmanisch ausstaffierten Islamisierung. Weite Teile der türkischen Bourgeoisie haben in den letzten 10 Jahren die AKP wegen ihrer Selbstverpflichtung gegenüber neoliberalen Politiken unterstützt, währenddessen haben andere Teile der türkischen Eliten in den ideologischen und sozialen Praxen islamistischer Politiken einen Kitt gesehen, der die sozialen Verwerfungen des neoliberalen Projektes zumindest teilweise lindert. Obwohl die 2000er Jahre von einem hohen Wachstum geprägt waren, hat wirtschaftliche Unsicherheit in den letzten Jahren weiter hin zum Lebensalltag in der Türkei gehört. Aber das sollte uns nicht dazu veranlassen das laufende Islamisierungsprojekt der AKP zu trivialisieren und als ein Instrument zu betrachten, dass dem Management sozialen Unfriedens untergeordnet ist. Die AKP und auch andere islamistische Akteur_innen betreiben es dafür schlicht zu passioniert.