Montag, 30. April 2012

Widerstand gegen Zentralismus und Vermarktlichung. Der YÖK im Fokus kritischer Studierender


Von İsmail D. Karatepe

Eingeführt infolge des Militärputsches von 1980 hatte der Hochschulrat YÖK vor allem zwei Funktionen: den Hochschulen ihren Charakter als Orte gesellschaftlichen Widerstandes zu nehmen und über zentralistische Kaderpolitik Kontinuität in die Hochschulpolitik zu bringen. Gegen beides kämpfen Studierende noch heute und sind dabei zunehmender Kriminalisierung durch die AKP-Regierung ausgesetzt, die nicht daran denkt, den YÖK aufzugeben.

In den vergangenen 20 Jahren haben sich die dominanten Akteure an den türkischen Hochschulen rapide gewandelt. Die in den 1990er Jahren im Umfeld des Hochschulrats YÖK als »Kemalisten« bekannten Kader sind nach den Wahlsiegen der AKP durch Kader, die ihrer ideologischen Linie nahestehen, ersetzt worden. Einstmals wichtige und die Hochschulpolitik bestimmende Personen wie der ehemalige Rektor der Istanbul Universität Kemal Alemdaroğlu verloren ihre Ämter. Die Neubesetzung von Ämtern ist allerdings nicht mit einem grundsätzlichen Wandel in der Hochschulpolitik verbunden. Die neoliberale Transformation der Hochschulen wurde unter der AKP allenfalls beschleunigt. Die seit den 1990ern ununterbrochen anhaltende Vermarktlichung und die sie begleitenden anti-demokratischen Maßnahmen stoßen seither auf den Widerstand und den Protest der Studierendenbewegung.

Transformation der Hochschulen

Das Jahr 1980 markiert einen radikalen Wandel in der Hochschulpolitik der Türkei. Der Militärputsch am 12. September 1980 hat erhebliche Veränderungen in der Eingliederung der Universitäten in das politische System und in die Wirtschaftspolitik erwirkt. Der von Uniformträgern initiierte Wandel hat die wissenschaftliche Autonomie in großem Maße zerstört. Die militärische Bürokratie hat die Verwaltung der Hochschulen am 6. November 1983 an zivile Machthaber übergeben, die der Junta nahe standen. Unter dem Dach des Hochschulrats YÖK (Abk. von Yüksek Öğretim Kurulu) versammelt, wachen vom Staatspräsidenten ernannte Bürokraten seitdem über die Hochschulen in der Türkei.

Die Debatten über die Hochschulen drehen sich sowohl um ihre Funktionsweise als auch um ihr Verhältnis zur Autonomie von Forschung und Lehre. In die Debatten über die Restrukturierung der Hochschulen in der Türkei waren jedoch nicht nur der Hochschulrat und die Regierungen involviert. Insbesondere TÜSIAD (Verband der Industriellen und Unternehmer der Türkei) aber auch andere Unternehmerorganisationen haben sich aktiv in die Auseinandersetzung eingebracht und eine bestimmende Rolle gespielt. Eine knappe Betrachtung des Beitrags, den TÜSIAD zu den Debatten über den Wandel der Hochschulen geleistet hat, ist hilfreich, um den aktuellen Status der Hochschulen und darüberhinaus die ideologischen Grundlagen zu verstehen, mit denen der Wandel legitimiert wurde.

Während der Militärputsch den institutionellen Rahmen für den Wandel schuf, formuliert der 1994 für TÜSIAD angefertigte Bericht »Hochschule, Wissenschaft und Technologie in der Türkei und der Welt« die inhaltliche Stoßrichtung des angestrebten Wandels der Hochschulen. Der Bericht wurde zu einer bestimmenden Referenzquelle für spätere Berichte. Er definiert das bestehende Hochschulsystem als eine »an die staatliche Autorität angelehnte bürokratische Konstruktion« und als Hort einer »akademischen Oligarchie« und stellt ihm das Modell einer stärker marktkonformen Hochschule entgegen. TÜSIAD veröffentlichte nach diesem Bericht viele weitere Berichte und organisierte zahlreiche Seminare und Sitzungen zur marktkonformen Hochschule.

Kemal Gürüz, der Leiter des Teams, das den Bericht für TÜSIAD verfasst hat, wurde 1995 zum Vorsitzenden von YÖK ernannt und führte dieses Amt bis in die Regierungszeit der AKP hinein fort. Die von TÜSIAD vorgeschlagene Linie wurde unmittelbar zur Politik von YÖK. Seine Nachfolger im Amt verfolgten die Linie unhinterfragt weiter. Zuletzt  hat der Hochschulrat im Juli 2006 einen Bericht mit dem Titel »Die Hochschulstrategie der Türkei« veröffentlicht. Die inhaltliche Übereinstimmung zum 1994er Bericht ist frappierend. Neben der neoliberalen Kritik an verkrusteten bürokratischen Strukturen werden Normen wie Hochschulautonomie, Vermarktlichung oder Leistungsfähigkeit zu Maßstäben erhoben.

Für die dominanten Klassen in der Türkei, vertreten durch ihre Verbände, ist der neoliberale Wandel zu einer Notwendigkeit geworden. Sowohl während der Herrschaft der »Kemalisten« als auch der »Islamisten« waren sie die treibende Kraft für ein marktkonformes Hochschulmodell. Unterschiedliche oder gar als einander feindlich gesinnt definierte politische Kräfte (die Kemalisten versus die Islamisten) haben gleichermaßen das Projekt eines marktkonformen Hochschulmodells akzeptiert. Zugleich sorgt das Projekt sorgt für eine fortgesetzt volle Tagesordnung der Studierendenbewegung. Der anti-demokratische Aufbau des YÖK und seine Maßnahmen bewirkten eine permanente Spannung zwischen dem YÖK-System und den Forderungen nach mehr Demokratie und Autonomie der Studierenden. Die alljährlichen Jubiläumsfeiern zur Gründung des YÖK waren Anlass für landesweite Protestkundgebungen, bei denen hunderte Studierende zusammenkamen.

Die Studierendenbewegung, die 1990er, die Islamisten…

In der Türkei sind verschiedene Regierungen und Projekte mit der Opposition der Studierendenbewegung konfrontiert gewesen. Dabei hat die Bewegung der AKP zweifellos am meisten Kopfschmerzen bereitet. Bevor die AKP an die Regierung gelangte, werteten islamistische Kräfte jede Initiative der Studierenden als Protest gegen »die sich auf die kemalistische Staatsautorität stützende Bürokratie« und gegen »die akademische Oligarchie«. Dies war gewissermaßen eine naive und einseitige Wertung. Die Islamisten positionierten sich auch – zumindest auf der diskursiven Ebene – gegen den Hochschulrat YÖK als ein disziplinierendes Produkt des Militärregimes. Die führenden islamistischen Medien hegten meistens Sympathien für die studentischen Proteste. 

In den 1990ern richtete sich die Studierendenbewegung nicht nur gegen unmittelbare Erscheinungen des marktwirtschaftlichen Wandels wie die Erhöhung von Studiengebühren, Privatisierung von Kantinen und Kommodifizierung von Wissen. Gleichzeitig positionierte sie sich gegen die Träger dieser Politik und hinterfragte deren ideologischen Standpunkt. Der neoliberale Wandel war in der Türkei mit über die Maßen repressiven Mitteln durchgesetzt worden. Anti-demokratische Maßnahmen waren an den Hochschulen ziemlich verbreitet. Die auf dem politischen Feld autoritären und dem ökonomischen Feld liberale Politiken der als kemalistisch geltenden Machthaber nach dem Putsch bildeten die Grundmotivation der Studierendenbewegung. Zum Beispiel waren der Rektor Kemal Alemdaroğlu und seine Stellvertreterin Nur Serter berüchtigt für ihre anti-demokratischen Maßnahmen an der Hochschule und wurden häufig Gegenstand von Protesten der mehr Demokratie fordernden Studierenden. In den Protesten gegen wichtige Figuren des Kemalismus kamen somit zwei Anliegen der Studierendenbewegung zusammen, die sich gegen Neoliberalismus und Autoritarismus richten. Da die islamistische Bewegung und ihre Medien Neoliberalismus und Autoritarismus kurzerhand mit »Kemalismus« gleichsetzten, interpretierten sie den Protest der Studierendebewegung einseitig als Protest gegen »Kemalismus« und übersahen geflissentlich die Kritik am neoliberalen Wandel.

Herrschaft der AKP und die Studierendenbewegung

Doch auch der Protest der islamistischen Bewegung gegen Autoritarismus richtete sich nicht gegen Autoritarismus als solchen, sondern nur gegen dessen Erscheinungsform im Kleide des Kemalismus. So haben die seit 2002 aufeinander folgenden AKP-Regierungen nicht wie versprochen den anti-demokratischen Status von YÖK verändert, der die Autonomie der Hochschulen beschneidet. Stattdessen hat die AKP die Kader in den Schlüsselpositionen ausgetauscht. Während die als Kemalisten bezeichneten Kader ersetzt wurden, wurden die Schlüsselpositionen in der Regel mit Kadern oder Sympathisanten der islamistischen Bewegung besetzt. Diese Kader haben nun die alte YÖK-Linie voll übernommen. Zum Beispiel haben sie die (vor dem Machtantritt der AKP) auch von islamistischen Intellektuellen viel kritisierten Disziplinarverordnungen der Hochschulen aus dem Jahr 1985 nicht verändert. Die existierenden Disziplinarverordnungen wurden mit der Regierungsübernahme durch die AKP nicht nur gegen kemalistisch auftretende Akteure, sondern auch gegen Opponenten der AKP angewandt.

Die AKP hat den Neoliberalismus in der Türkei weiter vorangetrieben, so auch die marktkonforme Transformation der Hochschulen. Die während der AKP-Periode erneut aufgeflammte Studierendenbewegung hat wie auch die vorangegangenen Generationen gegen diese Transformation protestiert. ›Wir widersetzen uns der AKP‹ wurde ein populärer Slogan der Bewegung. Die als Protestmittel gegen die AKP und ihre Bündnispartner symbolisch zum Einsatz gebrachten Eier wurden zum Anlass, das Verhältnis zwischen Herrschaft und Gewalt in der Türkei zu hinterfragen. Obwohl es nicht wie in den 1990ern gelang, große Massen zu mobilisieren, war die Studierendenbewegung eines der lebendigsten und schillerndsten Subjekte gesellschaftlicher Opposition. Mit ihren Protesten konnte sie oftmals die öffentliche Aufmerksamkeit erregen.

Die Haltung der AKP gegenüber diesen Protesten war sehr harsch. Heute sind an die 500 Studierende inhaftiert. Unter den Verhaftungsgründen befinden sich solche, die das Strafrecht der Mussolini-Zeit in den Schatten stellen. Tausende Studierende sind mit Disziplinarverfahren zur Entfernung von der Hochschule konfrontiert, die aufgrund der Teilnahme an Protesten eingeleitet wurden. Die kleinste Kundgebung von Studierenden, selbst der Protest gegen die Privatisierung einer Kantine, kann zu einem Kriminalfall gemacht werden. Die harsche Haltung der AKP gegenüber der Studierendenbewegung steht der Periode militärischer Verwaltung nach 1980 in nichts nach. Es wird offenbar, dass die sogenannte Normalisierung der Politik in der Türkei nicht für den politischen Umgang mit der Studierendenbewegung gilt.

Wichtige Figuren der AKP sowie islamistische Intellektuelle, die vor der Regierungsübernahme durch die AKP noch Sympathien für die Studierendenbewegung hegten, sind gegenwärtig damit befasst, letztere systematisch zu kriminalisieren. Das Interessanteste hierbei ist, dass die islamistischen Intellektuellen Proteste gegen die AKP als Machenschaften derer darstellen, die angeblich das »bürokratisch-kemalistische Vormundschaftsregime« wollen. Mit dieser Figur wird die massive Repression gegen die Studierenden gerechtfertigt, Opfer werden zu Tätern gemacht.

Obwohl die Studierendenbewegung kaum die mediale Präsenz erlangte wie diejenige aus Chile, kann von konkreten Erfolgen gesprochen werden. Die hartnäckige und militante Haltung gegen die Erhöhung von Studiengebühren stellt eine wichtige Voraussetzung dafür dar, dass es bis heute zu keinen bedeutsamen Erhöhungen gekommen ist. Die an vielen Hochschulen durchgeführten Proteste gegen die Erhöhung von Preisen im öffentlichen Personennahverkehr sowie in Kantinen haben von Zeit zu Zeit zur Rücknahme der Preiserhöhungen geführt. Manchmal fokussierten die Kämpfe auf kostenlose Benutzung von Transportmitteln und gegen die marktkonforme Transformation der Kantinen. Wie die Kolumnistin Pınar Öğünç treffend bemerkte, haben die Studierenden aufgezeigt, dass »die Kantine niemals nur die Kantine ist«[1]. Noch wichtiger ist, dass diese Proteste die Hochschulen zu widerständigen Orten gegenüber der neoliberalen Transformation machten.

Unabhängig davon, wer gerade die Regierung stellte, hat die Studierendenbewegung in den 30 Jahren nach dem 12. September-Putsch konsequent gegen die Vermarktlichung und die sie begleitenden anti-demokratischen Maßnahmen opponiert. Ohne in die Dichotomien Kemalismus/Islamismus und bürokratische/zivile Mentalität zu verfallen, hat die Studierendenbewegung nach 1980 eine dauerhafte Opposition gegen den neoliberalen Umbau der Gesellschaft und die Träger dieses Projekts etablieren können. Zumindest gegen das von der Bourgeoisie seit langer Zeit verfolgte Projekt der marktkonformen Hochschule konnte Druck aufgebaut werden. Daneben hat die Studierendenbewegung eine wichtige Rolle in der Erweiterung des politischen Handlungsfelds der Linken in der Türkei gespielt, indem sie aufgezeigt hat, dass es zu den autoritären Tendenzen, die den Neoliberalismus begleiten, alternative Wege der politischen Initiative gibt.

[1] In ihrer Kolumne in der Tageszeitung Radikal vom 02.01.2012.