Montag, 30. April 2012

Der Kampf um das Recht der gewerkschaftlichen Organisierung in der Türkei: Der Fall MAS-DAF


Von Serdar Damar, Thomas Sablowski
Seit rund einem Jahr dauert ihr Kampf um Wiedereinstellung an: Im westtürkischen Düzce hatten Arbeiter den Versuch unternommen, sich gewerkschaftlich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. Was als Kampf um Lohnerhöhung begann, radikalisierte sich im Verlauf der Ereignisse. Ein Ergebnis steht noch aus.

Seit rund einem Jahr kämpfen die Beschäftigten der MAS-DAF AG für ihre Wiedereinstellung. 120 Arbeiter campieren vor ihrem Betrieb in der anatolischen Stadt Düzce. Zuvor marschierten einige ihrer KollegInnen als Delegationen Hunderte Kilometer zu Fuß zur Unternehmenszentrale nach İstanbul und Ankara. Sie waren gefeuert worden, nachdem sie sich gewerkschaftlich organisiert hatten. Der Kampf um die gewerkschaftliche Organisierung bei MAS-DAF dauert nun schon zwei Jahre. Die Arbeiter geben nicht auf, obwohl sie einen hohen Preis für ihren Kampf bezahlen und obwohl sich in dieser Zeit auch die Stadtverwaltung von Düzce, der Gouverneur der gleichnamigen Provinz, die Gendarmerie, die Handelskammer und die Religionsbehörde als ihre Gegner erwiesen. 

Subventionen für das Kapital – Niedriglöhne für die Arbeiter

Die Stadt Düzce, die in der westlichen Türkei auf halbem Weg zwischen dem Industrie- und Finanzzentrum Istanbul und dem Verwaltungszentrum Ankara liegt, wurde 1999 schwer von einem Erdbeben getroffen und weitgehend zerstört. Im Zuge des Wiederaufbaus wurde in einer Sonderwirtschaftszone die Ansiedlung von Unternehmen großzügig subventioniert: Die Unternehmen erhielten Grund und Boden umsonst, bekamen Elektrizität zu verbilligten Preisen geliefert und kamen in den Genuss von Steuervorteilen. Auch der Eigentümer des Pumpenherstellers MAS-DAF, Özer Polatoğlu, nutzte die Gelegenheit, um 2006 in Düzce eine neue Fabrik zu errichten. Inzwischen ist Düzce eine der am stärksten industrialisierten Städte der Türkei. Die Erwerbsquote liegt deutlich über dem nationalen Durchschnitt. Der Wohnungsbau hat mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt gehalten, so dass eine erhebliche Wohnungsnot herrscht. 

MAS-DAF ist nicht untypisch für die Industriestruktur in Düzce, die vor allem durch kleine und mittlere Unternehmen der Metall verarbeitenden Industrie und der Bekleidungsindustrie geprägt ist. Die Unternehmen zahlen häufig nur den Mindestlohn von 638 türkischen Lira (ca. 300 Euro) pro Monat – zuweilen nicht einmal das. In der Bekleidungsindustrie ist es üblich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter offiziell den Mindestlohn erhalten, aber dem Unternehmer unter der Hand wieder einen Teil des Lohns zurückgeben müssen, wenn sie den Job behalten wollen. Auch bei MAS-DAF erhielten viele Arbeiter, die schon seit Jahren dort beschäftigt waren, nur den Mindestlohn. Nachdem es seit 2008 keine Lohnerhöhungen, aber erhebliche Preissteigerungen gegeben hatte, wuchs der Unmut unter den ArbeiterInnen. Sie beschwerten sich bei der Unternehmensleitung. »Wir hatten keine Beschäftigungsgarantie, und unsere Löhne waren nicht angemessen«, so der Arbeiter Ali Rıza Taşkıran gegenüber der Zeitung Evrensel[1]. Die Werksleitung in Düzce erklärte den Arbeitern, dass der MAS-DAF-Vorstand in Istanbul zwar vorhabe, demnächst eine Lohnerhöhung zu beschließen, dass diese jedoch nicht besonders hoch ausfallen könne. Wenn die Arbeiter sich indes sechs Monate gedulden würden, werde die Unternehmensleitung sie mit einer umso größeren Lohnerhöhung belohnen. So wurde der Konflikt zunächst beigelegt, die Beschäftigten nahmen das Angebot an. Nachdem sie sechs Monate gewartet hatten, traten sie wieder vor das Management, das jedoch jegliches Versprechen bestritt.

Nur kollektiv können die Arbeitsbedingungen verbessert werden

Aus der Erkenntnis, nur in organisierter Form für die Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen streiten zu können, traten daraufhin Anfang 2010 alle 120 Arbeiter der MAS-DAF AG in Düzce in die Vereinigte Metallgewerkschaft (Birleşik Metal-İş) ein. Diese ist mit weiteren 16 Einzelgewerkschaften unterschiedlicher Branchen Teil des Gewerkschaftsdachverbandes DISK (Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei). 

Unmittelbar nach dem kollektiven Gewerkschaftseintritt schickte Birleşik Metal-İş die Beitrittserklärungen an das Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit – eine Formalität, die in der Türkei notwendig ist, damit die Gewerkschaft auch juristisch anerkannt wird. Das türkische Arbeitsgesetz errichtet hohe Hürden für die gewerkschaftliche Organisierung: Eine Gewerkschaft ist nur dann berechtigt, in einem Betrieb Tarifverhandlungen zu führen, wenn sie dort mindestens 50 Prozent der Beschäftigten organisiert und zugleich landesweit mindestens 10 Prozent der Beschäftigten der betreffenden Branche repräsentiert. Das Ministerium bestätigte am 6. September 2010 die Zuständigkeit von Birleşik Metal-İş. Doch die Unternehmensleitung der MAS-DAF AG legte formelle Beschwerde ein und behauptete, Birleşik Metal-İş sei nicht zuständig, da MAS-DAF in einer anderen Branche (Holzverarbeitung!) tätig sei. Der Eigentümer von MAS-DAF machte damit deutlich, dass er nicht bereit war, das durch die Verfassung gesicherte Recht der Arbeiter auf gewerkschaftliche Organisierung zu akzeptieren. Vielmehr ging es darum, den Prozess so lange wie möglich aufzuschieben.

Kurz danach wurden unter einem Vorwand 22 Arbeiter entlassen, die sich in der betrieblichen Auseinandersetzung besonders hervorgetan hatten. Die übrige Belegschaft zeigte sich solidarisch mit ihren Kollegen und organisierte Proteste vor dem Betriebsgelände. Während der knapp vier Monate andauernden Proteste erhielten manche Arbeiter von der Stadtverwaltung Ordnungsstrafen in Höhe von 154 türkischen Lira (ca. 66 Euro) wegen angeblicher Blockade der Bürgersteige. Außerdem wurden 16 Arbeiter verletzt, als ein MAS-DAF-Manager am 5. November 2010 mit seinem Auto in die Menge der Protestierenden hineinfuhr. Zwar wurden die 22 Arbeiter nach diesem Vorfall wieder eingestellt, und es sah zunächst so aus, als sei der Eigentümer verhandlungsbereit – was sich jedoch schon bald wieder als Täuschung erwies. 

Am 4. April 2011 wurde allen 120 organisierten Beschäftigten ohne Erklärung gekündigt. Der Eigentümer nahm in Kauf, dass die Produktion des Unternehmens damit vollständig zum Erliegen kam und er seine Facharbeiter mit langjähriger Betriebserfahrung verlieren würde. Erhebliches fixes Kapital, das in modernen CNC-Maschinen, Pressen usw. gebunden war, lag nun brach. Allerdings hatte das Management die Beschäftigten in den Monaten zuvor angehalten, viele Überstunden zu leisten und die Produktion zu steigern, so dass das Unternehmen bereits über erhebliche Vorräte an fertigen Produkten verfügte. Als die Arbeiter von ihrer Kündigung erfuhren, besetzten sie spontan die Fabrik. Das Management rief daraufhin die Gendarmerie, die die Fabrik räumte und die BesetzerInnen vorübergehend festnahm. 

Seitdem protestieren die Beschäftigten vor den Betriebstoren und fordern ihre Wiedereinstellung. Um die Sympathie in der Bevölkerung für die Arbeiter von MAS-DAF zu beeinflussen, wurde sogar beim Freitagsgebet vor dem 1. Mai 2011 in allen Moscheen in Düzce eine Predigt gehalten, in der der Arbeitskampf als ein Akt gegen die Religion dargestellt wurde. In der Erklärung, die von der staatlichen Religionsbehörde abgesegnet worden war und von allen Imamen in den verschiedenen Moscheen verlesen werden sollte, heißt es, dass »die Verlangsamung der Arbeit, die Schädigung des Arbeitsplatzes und ein Verhalten des arbeitenden Menschen, das den Profit verringert, religiös unverantwortlich sind«.

Um den Druck auf den Eigentümer von MAS-DAF zu erhöhen, marschierte eine Delegation von 20 Arbeitern zu Fuß von Düzce zur Unternehmenszentrale im 220 km entfernten İstanbul. Auf dem Weg nach İstanbul verteilten Gewerkschafter Flugblätter und diskutierten mit den Passanten über ihr Anliegen. Sie berichten über große Unterstützung in der Bevölkerung, z.B. wurden sie unterwegs von AnwohnerInnen mit Essen und Trinken versorgt. Die MAS-DAF-Arbeiter solidarisierten sich unterwegs mit den Beschäftigten des Unternehmens BEKAERT in İzmit und denen des Elektronikunternehmens CASPER in İstanbul, die sich ebenfalls im Arbeitskampf befanden. Nach neun Tagen Fußmarsch erreichten sie İstanbul und schlugen vor der Zentrale der MAS-DAF AG ihre Zelte auf. 

Schützt das Recht die Beschäftigten?

Die Arbeiter haben gute Chancen, in den anstehenden Kündigungsschutzprozessen formal Recht zu bekommen. Doch die Regeln des Kündigungsschutzes schützen sie nicht wirklich. Der Eigentümer von MAS-DAF muss die Arbeiter auch dann nicht wieder einstellen, sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass die Kündigungen rechtswidrig waren: Er kann ihnen auch eine Abfindung zahlen, statt sie wieder einzustellen. Für die Entlassenen dürfte es schwer werden, in ihrer Heimatstadt, in der sie jetzt als GewerkschafterInnen bekannt sind, eine neue Anstellung zu finden. Hinzu kommt, dass sie durch den Kampf viel Geld verloren und Kreditkartenschulden aufgenommen haben und jetzt schon nicht wissen, wovon sie leben sollen. 

Der in İstanbul ansässige Eigentümer von MAS-DAF ist nicht der einzige Unternehmer, dem seine Beschäftigten und der Standort Düzce gleichgültig sind. Offenbar gibt es eine Reihe von Unternehmern, die in Zukunft eher in Gebieten im Osten der Türkei investieren wollen, in denen die Arbeitslosigkeit noch höher ist und gewerkschaftliche Organisierung auf noch größere Schwierigkeiten stößt – vorausgesetzt, der türkische Staat unterstützt diese Investitionen mit weiteren Subventionen. Jedenfalls sagte der Vorsitzende der Industrie- und Handelskammer von Düzce, Metin Büyük, schon im Jahr 2008: »Wir [in Düzce] sind nicht an neuen Investitionsanreizen interessiert. Wir haben die Investitionen bekommen, die wir brauchen. [...] Wir unterstützen Subventionen, aber sie sollten in die östlichen Provinzen wie Erzurum oder Hakkari fließen«. Offenbar hoffen die Herrschenden, durch Investitionen in den kurdischen Provinzen und die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht nur die Konflikte mit der kurdischen Bevölkerung zu befrieden, sondern auch neue Märkte im Mittleren Osten und in Zentralasien zu erschließen. Anders ist schwer erklärbar, warum der Vertreter einer lokalen Industrie- und Handelskammer fordert, nicht in seiner eigenen, sondern in anderen Regionen zu investieren. 

Damit unsere Enkel einmal unter besseren Bedingungen leben können

Der unter schwierigen Bedingungen geführte Arbeitskampf der MAS-DAF-Beschäftigten hat sich in mancher Hinsicht bereits gelohnt. Durch ihre Beharrlichkeit ist es ihnen gelungen, in den Medien ein positives Echo zu erzielen und Solidarität seitens der Bevölkerung und verschiedener Gewerkschaften zu erhalten. In Ankara, wohin sie fast 300 km marschierten, erhielten sie am 29. Juli 2011 die Unterstützung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Auch das Ministerium für Arbeit und Soziales sah sich daraufhin gezwungen, sich in den Fall einzuschalten und versprach, sich für eine Lösung des Konfliktes einzusetzen. Allerdings bedeutete dieses Versprechen faktisch eine erneute Verschiebung der Lösung des Konflikts. Ähnlich wie bei anderen gesellschaftspolitischen Themen lenkte die Regierung von Ministerpräsident Erdogan die Aufmerksamkeit auf den Verfassungsentwurf, der Ende dieses Jahres von einer Kommission verabschiedet werden und in den Vorschläge für die Erleichterung gewerkschaftlicher Organisierung und den Abschluss von Tarifverhandlungen einfließen sollen. Angesichts der entgegengesetzten Positionen der in der Kommission vertretenen Parteien und der starken Stellung der Bourgeoisie im Diskurs um eine neue Verfassung wird dies nicht automatisch erfolgen. Folglich dauern die Aktionen der Arbeiter vor dem Betriebsgelände immer noch an. Sie sind entschlossen, den Druck auf die Konzernleitung und die Politik weiter aufrecht zu erhalten.

Der Vorsitzende von Birleşik Metal-İş, Adnan Serdaroğlu, betonte bei einer Pressekonferenz vor dem Ministerium für Arbeit und Soziales, es reiche nicht, die Probleme nur in einzelnen Betrieben zu lösen. »Denn heute kann das Problem bei MAS-DAF gelöst werden, aber woanders herrschen weiter Probleme. Für uns ist wichtig, dass die Hürden für eine gewerkschaftliche Organisierung generell beseitigt werden. Wir wollen gesetzliche Sicherheiten, um antidemokratisches und gesetzeswidriges Verhalten der Arbeitgeber zu verhindern. Das ist unsere Forderung, und dafür werden wir bis zum Ende kämpfen«.
Wie Arbeiter von MAS-DAF im Gespräch mit Teilnehmenden eines vom DGB-Bildungswerk Hessen organisierten Bildungsurlaubs im Juni 2011 in Istanbul deutlich machten, geht es ihnen nicht mehr alleine um den Lohn oder um die Wiedereinstellung. In diesem Kampf geht es auch um ihre Würde, um ihre grundlegenden Rechte. Einer der Arbeiter, gerade Großvater geworden, äußerte, er wünsche sich, dass seine Enkel einmal unter besseren Bedingungen leben können.  

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Spenden für die kämpfenden Arbeiter können unter Angabe des Stichworts »MAS-DAF« an ihre Gewerkschaft überwiesen werden:
Kontoinhaber: Birleşik Metal-İş (Konto in Euro)
Kreditinstitut: Yapı Kredi Bankası
IBAN: Tr 480006701000000060824151
Bankleitzahl:682
SWIFT-Code: YAPITRIS

Solidaritätsschreiben können an die Adresse der türkischen Metallgewerkschaft gerichtet werden:
Birleşik Metal İş
Tünel Yolu Cad. No:2
Bostancı/İSTANBUL
Türkei

Protestschreiben können an die Adresse von MAS-DAF gerichtet werden:
MAS-DAF
ATASEHİR BULVARI
ATA ÇARŞI K. 4 No: 59
ATAŞEHİR / ISTANBUL / TÜRKEI