Montag, 29. Juni 2015

13 Prozent für die Frauen in der Türkei. Feministische Überlegungen zu den Parlamentswahlen am 7. Juni

Von Corinna Eleonore Trogisch

Der bahnbrechende Wahlerfolg der HDP ist eine gute Nachricht für alle DemokratInnen, Linken und Mehrfachdiskriminierten in der Türkei. Insbesondere alle Frauen hätten mit dieser Wahl gewonnen, meinte der Co-Vorsitzende und HDP-Spitzenkandidat Selahattin Demirtas. Doch inwiefern ist der Erfolg der HDP ein Gewinn für sie, wohlmöglich auch für die AKP-Anhängerinnen, gerade im Kontext alltäglicher Erfahrungen Vieler mit sexualisierter bzw. männlicher Gewalt? Wie ist es um die Partizipation der Geschlechter im türkischen Parlament bestellt? Welche Chancen eröffnen sich nun für feministische Kämpfe vor dem Hintergrund der erfolgreichen kurdischen Frauenbewegung, welche die politische Landschaft in den vergangenen Jahren ordentlich aufgemischt hat? Aus feministischer Sicht gibt es aber auch Widersprüchliches und Problematisches in der Entwicklung der HDP als breites links ausgerichtetes gesellschaftliches Bündnis.


Übergroße Freude bei DemokratInnen, Linken und Mehrfachdiskriminierten in der Türkei und anderen Ländern: Der Bajonett-Demokratie des „Tayyip-Ayip“[1] ist eine Grenze gesetzt. Die linkspluralistische „Demokratische Partei der Völker“ (türk. HDP), erst 2013 gegründet, hat die nach dem Putsch von 1980 implementierte 10-Prozent-Sperrklausel überschritten. Das von der kurdischen Bewegung hochgepäppelte Gebilde hat es über viele Häutungen und Metamorphosen geschafft, eine in der gesamten Türkei wählbare Partei zu werden und ist nun mit rund 13 Prozent der Stimmen in der Türkischen Nationalversammlung vertreten. Hinter der HDP steht der rätedemokratisch organisierte „Demokratische Kongress der Völker“ (türk. HDK). Dieser ist seit 2011 bestrebt, v.a. über die Bejahung religiöser, ethnischer und sprachlicher Vielfalt eine pluralistische politische Kultur, verbunden mit der Idee sozialer Gerechtigkeit, zu popularisieren.
Die Ergebnisse zeigten, was inzwischen in der mehrheitlich konservativen Türkei möglich ist: Auch die offene Unterstützung von Rechten für LGBT*-Menschen bedeutete am Ende keine Einbuße von Wahlstimmen. Doch inwiefern ist der bahnbrechende Erfolg der HDP ein Gewinn für alle Frauen in der Türkei?

Partizipation im Parlament

50 bis 60 Mandate mehr hätte es für die herrschende „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (türk. AKP) gegeben, wäre die HDP an der Sperrklausel gescheitert: 50 bis 60 Köpfe mehr, ob männlich oder weiblich, die einer frauenfeindlichen Programmatik zur Ausbreitung verhelfen. Doch daraus wurde nichts. Der Frauenanteil stieg indes von 79 (2011) auf 96 von 550 Abgeordneten. In absoluten Zahlen gar nicht so viel mehr – doch ist nun bald jede fünfte Abgeordnete eine Frau. Ihre quantitative Teilhabe nähert sich einem Bereich, in dem sie qualitativ wirken könnte: Frausein bildet sich im Parlament eher als selbstverständliche menschliche Conditio ab denn als Abweichung in einem Männerraum.
Bezeichnenderweise sind es die prokurdischen Parteien gewesen, die diesen Quoten-Quantensprung gebracht haben. Ebenso ist die Doppelspitze in der Türkei kurdischen Ursprungs. Erst durch den so entstandenen Druck stellten auch andere Parteien mehr Kandidatinnen auf, auch auf aussichtsreichen Plätzen. 1995 saßen mit Einzug der prokurdischen DEHAP mit einem Mal 13 Frauen im Parlament, 1999 dann 23, 2002 waren es 24 und 2007 schließlich 50. In jenem Jahr hatte die prokurdische DTP im Rahmen der Kampagne „1000 KandidatInnen der Hoffnung“ erstmals ihre Listen für ‚unabhängige SozialistInnen‘ geöffnet, eine Bezeichnung, unter der allerdings nur Männer Abgeordnete wurden.
Nun wurden 31 Kandidatinnen der HDP gewählt. Darunter sind Namen wie Sebahat Tuncel, eine kurdisch-alevitische Feministin, die 2007 aus dem Gefängnis heraus gewählt wurde; oder die legendäre Leyla Zana, die 1991 ihrem parlamentarischen Eid einen Satz auf Kurmanci (in der Türkei dominantes kurdisches Idiom) hinzufügte, in dem sie die türkisch-kurdische Geschwisterschaft beschwor – sie verschwand dafür auf Jahre im Gefängnis. Neu sind u.a. Hüda Kaya, gläubige und bedeckte Menschenrechtlerin, die sich, politisch von ganz rechts kommend, dem HDK anschloss, Filiz Kerestecioğlu, feministische Anwältin und Autorin des Protestsongs Kadınlar Vardır („Frauen gibt es“), Dilek Öcalan, eine junge Nichte des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan mit Erfahrungen in den Frauenorganen kurdischer Parteien, die marxistische, in der Umweltbewegung aktive Professorin Beyza Üstün sowie die kurdische Anwältin Meral Danış Beştaş, die mit Kolleginnen den türkischen Staat für seine Tolerierung von Männergewalt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte niederrang. Waren früher die wenigen im Parlament vertretenen Frauen oft hörige Verwandte oder Ziehkinder dominanter Politiker, zogen seit den 1990er Jahren mit den politisch profilierten Kurdinnen Frauen ins Parlament, deren Verbindung zur Bewegungsbasis sie stark machte. In dieser Legislaturperiode bilden die Parlamentarierinnen schon fast die verschiedenen Strömungen der Frauenbewegung ab.

Wahlverhalten der Geschlechter

Dass ›alle Frauen‹ bei dieser Wahl gewonnen hätten, schließt jene ein, die jahrelang und auch diesmal die AKP gewählt haben, einen institutionell tief verankerten Machtapparat mit 9,5 Millionen Mitgliedern, davon die Hälfte Frauen, die in ihren Wohnvierteln Politik an den Haustüren machen. Im Rahmen einer breiten Klassenallianz erreichte die AKP die Deutungshoheit über viele gesellschaftliche Themen, etwa das Kopftuch, das von ihr auf die Frage der Bildungsbeteiligung von Frauen reduziert wurde. Die AKP ist überall, und in vielem eine ‚Frauenpartei‘. Noch bei der Präsidentschaftswahl wurde Erdoğan zu 55 Prozent von Frauen gewählt. Andererseits stellen Untersuchungen heraus, dass die Unterstützung von Frauen für die AKP mit Anstieg ihrer formalen Bildung zurückgeht.[2]

Politische Ökonomie weiblicher Lebenslagen 

Andere weibliche Lebenslagen können andere Präferenzen begründen: Forschungen besagen, dass Frauen durch Integration in den Arbeitsmarkt in politische Debatten einbezogen würden, wodurch ihre politischen Kenntnisse und ihr Bewusstsein steige. Durch Erwerbsarbeit seien sie zudem verstärkt Geschlechterungleichheiten ausgesetzt und neigten dazu, feministische Ziele zu unterstützen. Da zudem Frauen für ihre Beschäftigung mehr vom öffentlichem Sektor und Sozialpolitik abhingen als Männer, wählten sie eher Parteien, die sich für Umverteilung einsetzen. Erwerbsarbeitende Frauen seien mithin zur Wahl linker statt rechter Parteien prädispositioniert.
Diesen Feststellungen liegt jedoch ein Typus von Erwerbsarbeit zugrunde, den es in der heutigen Türkei gerade für Frauen kaum noch gibt, nämlich Formalarbeitsverhältnisse mit Raum für Kollegialität, die Bewusstseinsbildung begünstigen. Ein Blick in die Arbeitsmarktstatistiken verrät: Die weibliche Erwerbsbeteiligung sinkt seit Dekaden. Nach einer Zählung im Februar 2012 sind von 24,8 Millionen Erwerbsaktiven 8,7 Millionen informell beschäftigt. Gleichzeitig hat die Türkei mit 28,7 Prozent den niedrigsten Anteil von Frauen an der Erwerbsbeschäftigung im OECD-Durchschnitt überhaupt. Von den fast 27 Millionen Frauen über 15 Jahren werden 11,9 Millionen als „Hausfrauen“ geführt, 3 Millionen arbeiten in der Landwirtschaft. Sie alle sind faktisch „unbezahlt mithelfende Familienangehörige“. Kranke und erwerbslose Frauen sowie solche, die die Arbeitssuche aufgegeben haben, hinzugezählt, zeigt sich: Mehr als die Hälfte der Frauen in der Türkei hat kein unabhängiges eigenes Einkommen. [3]
Eine der politischen Leistungen der AKP besteht zugespitzt eben darin, den regulatorischen und legitimatorischen Rahmen dafür geschaffen bzw. reproduziert zu haben, dass Frauen zwar arbeiten und ihre Arbeit verwertet werden kann, sie dabei aber nicht so leicht Identitäten annehmen, die eine Interessenartikulation wie oben angedeutet nach sich ziehen. Eine weitere Beobachtung: Während Männer auch ohne hohe formale Bildung im Arbeitsmarkt unterkommen, ist Bildung für Frauen viel substanzieller, um ökonomisch unabhängig zu sein. Die jüngsten Reformen der Schulbildung beschränken die Bildung der meisten Mädchen auf eine funktionale zur Erzeugung billiger Arbeitskräfte, bar jeder staatsbürgerlichen Ausrichtung. Dies war von Maßnahmen zur Förderung von Frühheiraten flankiert. Wenn so nun auch die weiblichen Bildungsabschlüsse sinken sollten, ließe sich sagen, dass die AKP ihre künftigen Wählerinnen buchstäblich produziert.
Arbeitsmarktpolitisch begann die beschriebene Entwicklung schon vor der AKP. Doch wie keine Regierung zuvor schaffte sie es, brutale Klassenpolitik und Neopatriarchalismus legitimatorisch zu verschmelzen und so die Vorgaben von IWF und Kapitalfraktionen durchzusetzen. Zu sehen wie ihre frauenfeindliche Rhetorik auf ökonomischer Entmachtung und dem Gefügighalten von Frauen fußt, verweist auf Hintergründe für die zunehmende männliche Gewalt. Während ökonomische Unabhängigkeit Frauen für Männergewalt weniger erreichbar macht oder ihnen Ressourcen verschafft, sich schneller zu regenerieren, werden derzeit vor dem Hintergrund von Abhängigkeiten und Erschöpfung des Sozialen, im Zusammenspiel mit Kriegspolitik, die Geschlechterkonflikte schärfer und vielfältiger. Je nach politischer Machtkonstellation werden Frauen unterschiedlich angesprochen und selbst handlungsfähig: als Einzelne, kollektiv als (Teil-)Bewegung oder Erwerbsarbeitende. Auch in der Rolle als Mütter können sie mit Autorität ausgestattet oder gänzlich auf die Rolle von Untergebenen verwiesen sein. Unter bestimmten Bedingungen entwickeln sie Sozialkonservatismus als Bewältigungsstrategie, und das schließt immer ein, sich mit Männergewalt und Frauenhass zu arrangieren, beides mitzutragen und zu verharmlosen — bis hin zu der Forderung an andere Frauen, ihr Leiden nicht zu artikulieren und nicht aufzubegehren. Gleichzeitig werden Prekarität und Erfahrungen des Scheiterns zunehmend von Paaren im urbanen Kontext verhandelt. Patriarchale Herrschaftsformen sind im Umbruch. In diesem Kontext schießt die Anzahl ermordeter Frauen nach oben – von 66 im Jahr 2002 auf 847 in den ersten 9 Monaten des Jahres 2013. Wurden zwischen 2008 und 2011 schon 47 Prozent aller ermordeten Frauen von ihren Ehemännern oder Ex-Ehemännern umgebracht, liegt dieser Wert jetzt bei 69 Prozent.

Feministische Kämpfe, Kurdische Frauenbewegung und neue Aufbrüche

In der Türkei war es der Militärputsch vom 12. September 1980, der die Durchsetzung von weitreichender Deregulierung und anderen Strukturanpassungsmaßnahmen ermöglichte. Emanzipatorische Bewegungen wurden nachhaltig zerschlagen und auf Generationen traumatisiert. Lebensrealitäten und Nöte von Frauen traten durch die aggressive Klassenpolitik noch weiter auseinander, ohnehin vorhandene kulturelle Distanz und der politisch ins Spiel gebrachte Faktor Islam taten ein Übriges. Dies prägte nicht nur die ersten Schritte der entstehenden feministischen Bewegung, sondern alle frauenbewegten Spektren. Feministinnen waren abgeschnitten von progressiven Massenbewegungen und entwickelten ihre Politik umso unvermeidlicher als subkulturelle. Ihre Aktionsformen waren politisch unverständlich, sobald sie provokativ oder illoyal zu vorgegebenen Kollektiven wurden. Dies begann sich erst nach Dekaden politischer Reifung aller frauenpolitischen Strömungen zu wandeln.
In den 1990er Jahren wurde von unerwarteter, nämlich kurdischer Seite ein Aufbruch von Frauen sichtbar, der weitreichende Auswirkungen auf die Gesellschaft der Türkei haben sollte. Anders als Feministinnen gegenüber der gemischten Linken, erlangten kurdische Frauen in der PKK-nahen Bewegung soziale Macht. Was als geschickt produktiv gemachter Teil eines Volksaufstandes begann, als Öcalan’sches ‚Ersatzproletariat‘, und heute als kurdische Frauenbewegung hervortritt, macht eine Vielfalt von Strategien wirksam, generationenübergreifend, quer durch alle gleichheits- und differenzfeministischen Erfahrungsbestände, und vor allem — wenig zur Freude antihierarchischer Reflexe — einem Gefüge aus vielfältigen Hierarchieebenen und Arbeitsteilungen unter Frauen, das strategisch einsetzbar ist.[4] In keiner Bewegung oder Partei in der Türkei war das Verhältnis von weiblichen Kadern und ihrer Basis jemals so funktional für die Verankerung von Themen wie im Falle der PKK-nah organisierten Kurdinnen. Ihr Weg führte über Autoritarismus und strikte Parteiloyalität, doch das Repertoire breitete sich aus, und der politische Widerhall dieser Bewegung ist gewaltig. Kurdische Guerilleras sind überdies international sichtbar Teil der einzigen politischen Kraft, die die Ausbreitung des IS zurückdrängen kann.
Unabhängige feministische Netzwerke stehen indes in einer zunehmend ausweglosen Konfrontation mit der ideologischen Übermacht der AKP. Profitiert hatte vom Institutionen-Umbau der AKP das nunmehr staatsnahe Segment der Frauenbewegung, die religiös legitimierten Organisationen.
Auf den ‚kemalistischen Feminismus‘ schließlich gab es etliche Abgesänge. Einige Entwicklungen, die Frauen einigende Erfahrungen vermittelten, lassen jedoch eine möglicherweise bedeutsame Transformation von Teilen dieses Spektrums wahrscheinlich werden: Schon 2012 wandten sich Millionen Frauen verschiedener politischer Lager gegen das schließlich faktisch durchgesetzte Verbot der Abtreibung. In ›Gezi-Land‹ geschahen mehrere wichtige Dinge: Feministinnen wurden zum ersten Mal in einer gemischten Bewegung eigenständig sichtbar, mehr als geduldet. Sie konnten und mussten, darin ungeübt, plötzlich auf eine größere Masse bezogen agieren. Ihnen fiel eine Rolle als Zivilisiererinnen zu. Auch weil sie diese ausfüllten, konnten sich viele Frauen zu ihrem Erstaunen in einer so großen Ansammlung bewegen, ohne belästigt zu werden. Diese Ausnahmeerfahrung bescherte der Bewegung umso mehr Loyalität von Frauen.
Das phantastische Wahlergebnis der HDP verdankt sich in etlichen Punkten dem Gezi-Widerstand: Zum einen brachten diese Wochen einen Durchbruch in der Empathie für die KurdInnen im Land. So wurde die Zuwendung auch von CHP-StammwählerInnen möglich, die die HDP mit über die Hürde trug. Zum anderen: Über 1,5 Millionen Stimmen wurden als ungültig bewertet, v.a. in den kurdischen Gebieten und Mittelanatolien. Es liegt nahe, dass ein großer Teil davon HDP-Stimmen waren.[5] Nur durch die Unermüdlichkeit und gute Zusammenarbeit von abertausenden bereits an den Kommunalwahlen 2014 geschulten „demokratischen WahlhelferInnen der Völker“, wie sie im HDP-Hype geadelt wurden, wurde verhindert, dass noch mehr HDP-Stimmen verschwanden. Mehr als 50 Prozent davon waren Frauen. Wie der offizielle Friedensprozess, das Ende militärischer Konfrontation, stark von Frauenorganisationen unterstützt, wird, so machten sich Frauen hier für sozialen Frieden stark. Die Option auf Aussöhnung und jeder praktische Schritt dorthin, hat für Frauen jeder politischen Zugehörigkeit unmittelbare Relevanz, denn gesellschaftliche Spaltungen wirken sich immer negativ auf ihre Möglichkeiten zur Interessenartikulation aus. Auch vor diesem Hintergrund unterstützen Feministinnen die HDP. An die 1.000 von ihnen unterschrieben einen Unterstützungsaufruf, in dem sie feststellten: „Für uns ist unumgänglich, dass für Frieden und eine bleibende Lösung der kurdischen Frage die HDP im Parlament sein muss.“

Handlungsperspektiven, offene Fragen und Widersprüche 

Mit den Wahlergebnissen scheint sich ein politischer Raum aufzutun, in dem Feministinnen auf einmal überall FreundInnen haben. Doch dies verdankt sich auch Entwicklungen und Prioritäten in der Politik der HDP, die gerade aus feministischer Sicht nicht unproblematisch sind.
Was die Berücksichtigung von Klassenverhältnissen angeht, zeigt die vorangegangene Zusammenschau, welche Bedeutung es aus Frauensicht hat, Arbeitende nicht nur als Gruppe neben Kurden, Aleviten oder Frauen zu stellen und Klasse unverzichtbares, auch weibliches, Subjekt politischer Veränderung anzusprechen. Erst kürzlich zeigte sich wieder, wie unterentwickelt hier die Verbindung zu aktuellen Kämpfen ist, als in der Autoindustrie der westtürkischen Stadt Bursa eine Welle wilder Streiks für höhere Löhne begann. Die in Massen aus ihrer staatsnahen Gewerkschaft Türk Metal austretenden Streikenden erkämpften sich finanzielle Zugeständnisse sowie die Zusicherung von Sanktionsverzicht. Die HDP erklärte zwar ihre Solidarität. Doch aufgrund ihrer Konzentration auf den Wahlkampf blieb praktische Unterstützung für den Streik aus.
Einer der Wege, die zum fulminanten Wahlergebnis der HDP führten, war deren Öffnung für religiös-konservative Kräfte. Aus feministischer Sicht ist dies besonders problematisch. Anders als im Iran und in Syrien, so Sanem Vaghefi,[6] sei die kurdische Bevölkerung der Türkei mehrheitlich sehr konservativ. Um hier Zustimmung zu gewinnen, hätte die kurdische Bewegung einen Diskurs entwickelt, der eher auf einem pro-kurdischen alternativen, „anderen Islam“ beruhe als auf Säkularismus. Dabei verschwimme auch der Standpunkt gegenüber dem politischen Islam. Öcalans schrieb etwa – anlässlich des 2014 unter Beteiligung vieler HDP-Angehöriger abgehaltenen „Kongress des Demokratischen Islam“ -, die kurdische Bewegung sei weder atheistisch noch materialistisch, und der Islam solle nicht mithilfe westlicher Konzepte interpretiert werden. Mithin betreibe die HDP ihre Wahlpropaganda „nicht innerhalb eines säkularen Rahmens“, so Vaghefi.
Doch dass sich die HDP auf Kosten säkularer Politik weiter für fromme Kreise und Konservatismus öffnet, hieße dass sich die Deutungshoheit der AKP noch im Widerspruch gegen sie stets ausdrückt und reproduziert. In den letzten Jahren, als sich dem HDK hier Religiöse und da Transen, Lesben und Schwule anschlossen, fragte man sich schon oft, wann das Band zerreißen möge. Ein politisches Projekt, dass keinen Umgang mit religiösen Fragen findet, verspielt hingegen ebenfalls jede Möglichkeit der Hegemoniegewinnung. Der Widerspruch bleibt. Rückt die kurdische Bewegung nach rechts, wird frauenpolitisches Essenzielles zur Disposition gestellt?
Nicht selten wirft progressive Geschlechterpolitik ihre ganz eigenen Demokratieprobleme auf, worauf für die kurdische Bewegung die Journalistin Frederike Geerdink aufmerksam macht: Der konservativ eingestellten kurdischen Bevölkerung wurden weibliche Kandidatinnen verordnet, in dieser Hinsicht die Revolution von oben ausgerufen. In der nicht-kurdischen Linken hingegen muss jeder Quotenversuch verzweifelten Personalmangel auslösen,[7] denn ob der tradierten Praxis bringen Frauen gemeinsam es nicht weit genug, ausreichend von ihnen selbst legitimierte Vertreterinnen zu stellen. Sofern angebotene Stühle nicht leer bleiben, wird mitunter hineingehievt, wer sich erwischen lässt. Loyalitätsprobleme und ein brain drain für die feministische Bewegung sind weitere Tücken der Sache. Das ist die Ausgangssituation für HDK und HDP. Und entsprechend stellt der feministische Unterstützungsaufruf für die HDP fest, dass eine Partei allein keine Grundlage für genuin feministische Politik sein kann. Es braucht immer die Kraft zur Illoyalität durch unabhängige Organisierung. Jedoch sind Bündnispartner im parlamentarischen Raum höchst bedeutsam. Falls die HDP sich als links(liberale) oder sozialdemokratische Partei in der Türkei etablieren kann, werden sich vielfältige Kanäle für feministische Forderungen öffnen. So könnte das Projekt HDP Feministinnen helfen, aus der Marginalisierung heraus zu kommen.
Klar ist: Mit diesem Wahlergebnis ist auch die Frage nach der Teilhabe von Frauen an sozialistischer Politik mit voller Wucht zurück auf der Tagesordnung. Ein Schlüsselthema hierbei wird sexualisierte bzw. Männergewalt sein, die zur alltäglichen Erfahrung von Frauen gehört. Die Auseinandersetzungen um solche Gewalt in linken Organisationen (Parteien, Gewerkschaften bzw. Gewerkschaftsverbänden) ist zum guten Teil eine Geschichte feministischer Niederlagen und Rückzüge. Somit könnten diejenigen, die von der HDP zurecht eindeutiger eine Politik für soziale Rechte vertreten sehen wollen, an Glaubwürdigkeit gewinnen, indem sie ein alle Geschlechter einschließendes Verständnis von Klasse vorantreiben. Und sie könnten wiedererstarkten Frauen, die Gewalt benennen, explizite Wertschätzung entgegenbringen – anstatt Frauen in den Reihen zu nötigen, ihre Gewalterfahrungen zu verleugnen.
Einen Monat vor der Wahl wurde in sozialen Netzwerken ein Interview Selahattin Demirtaş‘ mit dem Sender Fox News verbreitet. Auf, den Hinweis des Moderators: „Als Sie ihr Wahlprogramm verkündeten, stand die HDP-Ko-Vorsitzende Figen Yüksekdağ neben Ihnen“, korrigierte ihn Selahattin Demirtaş, zweiter Ko-Vorsitzender: „Nein, ich stand neben ihr.“[8] Damit sich dies bewahrheitet, müssen verschiedene Strömungen der Frauenbewegung in der Türkei daran arbeiten, den Wahlsieg zu einem gemeinsamen zu machen.

 ANMERKUNGEN

[1]      Ein im Zuge des Gezi-Widerstandes geprägtes Wortspiel mit Erdogans Vornamen. Ayıp bedeutet „unanständig“.
[2]      Nazan Üstündag: HDP kadınları merkeze alan politikalar üretmeli. Atılım Dergisi
        http://www.atilimhaber.org/2014/08/22/ustundag-hdp-kadinlari-merkeze-alan-politikalar-uretmeli/
[3]      Özlem Ilyas Tolunay: Women in Erdoğan’s Turkey. New Politics, Vol. XIV No. 4, http://newpol.org/content/new-politics-vol-xiv-no-4-whole-number-56
[4]      Özgen Dilan Bozgan, 2011: Kürt Kadın Hareketi Üzerine Bir Değerlendirme. In: Sancar, Serpil (Hg.): Birkaç Arpa Boyu. 21. Yüzyıla girerken Türkiye’de Feminist Çalışmalar, Koç Yayınları, 757 – 799



Zuerst erschienen in Luxemburg Gesellschaftsanalyse und linke Praxis http://www.zeitschrift-luxemburg.de/13-prozent-fuer-die-frauen-in-der-tuerkei-feministische-ueberlegungen-zu-den-parlamentswahlen-am-7-juni/