Mittwoch, 18. Mai 2016

Gescheiterter Friedensprozess und Bürgerkrieg in der Türkei

Von Errol Babacan, Murat Çakır und Andrea Neugebauer

Editorial zum Dossier Nr. 82 in Wissenschaft & Frieden 2016-2

Drei Jahre nach Aufnahme von Verhandlungen zwischen der AKP und der PKK muss nicht nur deren Scheitern, sondern auch eine militärische Eskalation festgestellt werden, die qualitativ neue Züge trägt. Das Dossier stellt Artikel zusammen, die Ursachen der aktuellen Eskalation diskutieren und Einsichten in den Charakter des Konflikts vermitteln.

Anfang 2013 rief der inhaftierte PKK-Vorsitzende Abdullah Öcalan nach Gesprächen mit der türkischen Regierung den Beginn einer demokratischen Ära aus. Die Waffen sollten einem Wettbewerb der Ideen weichen, die Guerilla sich aus der Türkei zurückziehen. Die PKK-Führung im Irak zeigte sich skeptisch, verkündete aber doch einen Waffenstillstand. Die Skepsis der PKK war durch die abrupte Kehrtwende der türkischen Regierung begründet, die noch kurz zuvor die „totale Eliminierung“ der kurdischen Bewegung als Ziel formuliert hatte. Mit den nachfolgenden Verhandlungen keimten Hoffnungen auf, dass der seit mehr als 30 Jahren anhaltende bewaffnete Konflikt befriedet und die wesentlich ältere »kurdische Frage« mit zivilen Mitteln gelöst werden könnte.

Drei Jahre später muss nicht nur das Scheitern der Verhandlungen, sondern auch eine militärische Eskalation des Konflikts festgestellt werden, die qualitativ neue Züge trägt. Seit Monaten werden urbane Zentren der überwiegend kurdisch besiedelten Region in der Türkei bombardiert. In dicht bewohnten Stadtvierteln großer Städte wie Diyarbakir findet ein Häuserkampf zwischen einer Stadtguerilla und dem türkischen Militär statt.

Das vorliegende Dossier stellt Artikel zusammen, die Ursachen der aktuellen Eskalation diskutieren, Einsichten in den Charakter des Konflikts vermitteln wollen und dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Arzu Yılmaz beleuchtet die Eskalation im Kontext der regionalen Entwicklungen und legt dar, dass der »Friedensprozess« von Anfang an problematisch war. Während in der Türkei über Frieden gesprochen wurde, entwickelte sich in Syrien ein Stellvertreterkrieg. Die Unterstützung islamistischer Milizen durch die türkische Regierung verhinderte jedoch nicht, dass sich mit »Rojava« ein – nach dem Irak – zweites kurdisches Autonomieprojekt herausbildete. Die militärischen Verbände dieses Projekts, die von der PKK maßgeblich unterstützt wurden, gingen überdies mit den USA eine Kooperation ein, die mit den Interessen des US-amerikanischen NATO-Partners Türkei nicht zu vereinbaren war. Eine Lösung des Konflikts könne vor diesem Hintergrund nur durch eine Internationalisierung von Friedensverhandlungen erreicht werden, so Yılmaz.

Errol Babacan befasst sich mit gesellschaftlichen Ursachen der Widersprüche zwischen der kurdischen Bewegung und der türkischen Regierungspartei AKP und fragt nach der Möglichkeit eines Kompromisses zwischen ihnen. Er kommt zu der Ansicht, dass die AKP – durch die Eskalation innenpolitisch eher gestärkt – zu keinen Abstrichen an ihrem islamisch-nationalistischen Kernprojekt bereit sei, wodurch eine Verhandlungslösung verunmöglicht werde. Babacan sieht ein Dilemma: Militärisch sei der Konflikt nicht lösbar, eine Annäherung mit »zivilen« Mitteln sei aber nur unter Aufgabe von Inhalten denkbar, durch die die Akteure sich definieren und ihre gesellschaftliche Macht organisieren.

Joost Jongerden befasst sich in seinem Beitrag mit dem Projekt »Demokratische Autonomie«, das auf eine philosophische Auseinandersetzung Öcalans mit Nation und Staat zurückgeht. Er berichtet von einem dichten politischen und sozialen Netzwerk, das die kurdische Bewegung errichtet habe und das den Anspruch erhebe, eine alternative Form der Vergesellschaftung von unten zu organisieren. Mit Beispielen aus der kurdischen Metropole Diyarbakir veranschaulicht Jongerden diesen Ansatz.

Norman Paech fragt nach den internationalen Regeln für einen Krieg, den er als Bürgerkrieg klassifiziert, und legt dar, warum sie eine Asymmetrie zwischen den kämpfenden Parteien entstehen lassen. Paech stellt jedoch klar, dass Staaten das humanitäre Völkerrecht bzw. die Regeln der Genfer Konventionen einhalten müssten und die aktuellen Kriegshandlungen der Türkei ein Vergehen gegen das Völkerrecht seien.

Schließlich zeichnet Ulla Jelpke in ihrem Beitrag nach, wie die Bundesrepublik Deutschland, durch Bündnis- und Wirtschaftsinteressen motiviert, kurdische Aktivitäten in Deutschland unterdrückt (hat). Die Einstufung der PKK als terroristische Vereinigung setzte zivile und demokratische Aktivitäten kurdisch-stämmiger BürgerInnen und auf sie bezogene Solidarität strafrechtlicher Verfolgung aus. Insbesondere vor dem Hintergrund der internationalen Anerkennung des Kampfes der kurdischen Bewegung gegen den »Islamischen Staat« plädiert Jelpke für ein Überdenken der bundesdeutschen Politik.

Das Dossier kann nur einige der Aspekte, die für eine kritische Betrachtung und Bewertung des Konflikts von Bedeutung sind, aufnehmen. Weitere Themen, die uns von besonderer Relevanz erscheinen, sind die Auswirkungen des so genannten Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei sowie eine ausführlichere Betrachtung der bundesdeutschen Außenpolitik in der Nahostregion. Denn militärische Ausbildung für und Waffenlieferungen an irakisch-kurdische Peschmerga haben zu einer unmittelbaren Beteiligung geführt, die im Rahmen der »Anti-IS-Allianz« um weitere militärische Einsatzmittel ergänzt wurde. Ferner wäre eine geopolitische Einbettung des Konflikts, die über den Rahmen der von Yılmaz diskutierten Zusammenhänge hinaus reicht, wichtig für eine umfassendere Einschätzung. Nicht zuletzt stellt sich die Frage nach den Auswirkungen des Krieges in der Osttürkei für die westtürkischen Metropolen, in denen Millionen Kurdinnen und Kurden leben, die durch ihre Herkunft in den Konflikt verwickelt sind, ob sie wollen oder nicht.

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