Montag, 10. August 2015

Die Politische Ökonomie des „türkischen Wirtschaftswunders“

Von Turan Subaşat

Das ökonomische Wachstum unter der AKP-Regierung wird oftmals als Wirtschaftswunder am Bosporus bezeichnet. Anhand einer kritischen Interpretation makroökonomischer Eckdaten und eines Vergleichs mit anderen Ländern kann jedoch aufgezeigt werden, dass das Wachstum überbewertet wird, es sich vielmehr um eine „Bubble Economy“ handelt.

Die türkische Wirtschaft wird als erfolgreich und für Schwellenländer als Vorbild betrachtet. Auf den ersten Blick scheint diese Wahrnehmung belegbar. Seit 2002 haben sich das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die Exporte verdreifacht; die Inflation wurde unter Kontrolle gebracht und die Staatsschulden vermindert. Die Regierung und ihre Unterstützer werden nicht müde zu behaupten, die Türkei könne bis zum Jahr 2023 die zehntgrößte Volkswirtschaft der Welt werden. Diese positive Darstellung findet Unterstützer in den Medien, ebenso wie in akademischen Kreisen. Der „Erfolg“, mit dem dieser Artikel sich kritisch auseinandersetzt, wird als unbestrittene Wahrheit zelebriert.

Dieser Artikel betrachtet den 2001 einsetzenden zweiten Neoliberalisierungsschub in der Türkei, der ab 2002 unter der Regie der AKP-Regierung stand. Das zentrale Argument lautet: Obwohl die Türkei relevante ausländische Investitionen angezogen hat, wurde nur ein kleiner Teil dieser Investitionen in die Produktion gelenkt. Somit ist die türkische Ökonomie eine weitere „Bubble Economy“, in der das Wirtschaftswachstum an der inländischen Nachfrage hängt und demnach auch kein Wunder, nicht mal eine kleine Erfolgsgeschichte.

Bruttoinlandsprodukt und Exporte

Eine echte Erfolgsgeschichte braucht die Berücksichtigung einiger Kriterien. Erstens sollten die für die Beurteilung eines (vermeintlichen) Erfolges genutzten Daten behutsam gewählt werden. Im Falle des Bruttoinlandsprodukts müssen konstante Preise zugrunde gelegt werden, weil sonst ein Anstieg im aktuellen Kurs des Bruttoinlandsprodukts aus Preisschwankungen resultieren kann, die keinen realen Anstieg in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen widerspiegeln. Das reale Bruttoinlandsprodukt hält die Preise konstant und misst die Änderungen der Produktion. Grafik 1 stellt das Bruttoinlandsprodukt der Türkei und die Exporte in Marktpreisen und konstanten Preisen dar. Sowohl das BIP als auch die Exporte bilden sich zu Marktpreisen in einem deutlichen Knick ab, während unter der Annahme konstanter Preise dieser Knick nicht erkennbar ist.



Grafik 1: BIP und Exporte in der Türkei zu Marktpreisen und konstanten Preisen
A (oben): BIP [Millionen US-Dollar]
B(unten): Exporte [Millionen US-Dollar]

Erfolg ist stets ein relatives Konzept und die externen Bedingungen sollten immer in die Betrachtung einbezogen werden. Deshalb wäre es interessant, die Türkei mit anderen Ländern zu vergleichen. Während in den früheren Jahren der AKP die externen Bedingungen sehr günstig waren, hat sich dies nach der globalen Finanzkrise geändert. Weil ein Vergleich von über 200 Ländern aber unpraktisch wäre, wird die Performance der Türkei mit verschiedenen Einkommensgruppen verglichen.

Grafik 2 stellt das BIP und die Exporte der Türkei in Prozent des BIP und der Exporte der Vergleichsgruppen, also Länder der Kategorie „hohe“, „obere-mittlere“, „niedrig-mittlere“ und „niedrige“ Einkommen, dar. Im Vergleich zu den anderen Ländern impliziert ein Anstieg in der Grafik ein schnelleres Wachstum der Türkei, während umgekehrt ein Rückgang ein langsameres Wachstum impliziert. Indien wird hierbei zur niedrig-mittleren Einkommensgruppe gezählt, China zur oberen-mittleren Einkommensgruppe. Da der Vergleich der Türkei mit diesen sehr großen und schnell wachsenden Volkswirtschaften unfair wäre, werden die entsprechenden Grafiken zusätzlich noch unter Ausschluss von Indien und China dargestellt.



Wenn man sich Grafik 2 anschaut, sieht man, dass das BIP in der Türkei zwischen den Jahren 1987 und 1999 schneller als das der anderen Länder gewachsen, zwischen den Jahren 1999 und 2002 wegen des Erdbebens 1999 sowie der Finanzkrise 2001 gesunken ist. In den Jahren 2002 bis 2011 ist das BIP der Türkei allerdings lediglich schneller als das BIP der Länder mit hohem Einkommen gestiegen. Diese Länder hatten eine der schlimmsten Finanzkrisen ihrer jüngeren Geschichte erlitten. Mit anderen Worten: Die Türkei scheint nur dann erfolgreich, wenn man das Wachstum ihres BIP mit Ländern der hohen Einkommensgruppe vergleicht. Für alle anderen Einkommensgruppen ist das BIP der Türkei relativ gesunken. Mit Blick auf die Exporte offenbart die Türkei unter der AKP eine trübe Bilanz: Während das Land sich zwischen den Jahren 1987 und 1999 erfolgreicher als alle anderen Einkommensgruppen darstellt, scheint davon während der AKP-Periode keine Rede mehr zu sein, zumal der Rückgang 1999 begann.

Diese Feststellungen bedürfen einer weiteren Ausführung, weil sie in den meisten Debatten über die Handels- und Zahlungsbilanzen der Türkei wenig Beachtung finden. Ein Gemeinplatz besagt, die Exporte der Türkei seien in der Periode der AKP sehr schnell gewachsen. Doch die Importe sind noch schneller angestiegen und haben den Handel und die gegenwärtige Zahlungsbilanz ins Defizit gebracht. Häufig heißt es, das Handels- und das Leistungsbilanzdefizit seien ein permanentes strukturelles Merkmal der türkischen Ökonomie. Ob das stimmt oder nicht, kann leicht nachvollzogen werden, indem die Wachstumsraten der Importe und Exporte in der Türkei miteinander verglichen werden.



Grafik 3 stellt in beiden Perioden die Wachstumsraten der Importe und Exporte zu Marktpreisen und zu konstanten Preisen dar. Grafik 3A unterstützt die allgemeine Wahrnehmung: Obwohl während der Ära der AKP die Exporte beachtlich gestiegen sind, sind die Importe noch schneller gestiegen. Dieser Effekt erhöhte das Handelsbilanzdefizit. Grafik 3B dagegen erzählt eine andere Geschichte. Die Wachstumsraten der realen Exporte fielen von 9 Prozent in der Zeit vor der AKP auf 5,3 Prozent während der AKP-Periode, wohingegen die Wachstumsraten der realen Importe von 9,6 auf 9,7 Prozent angestiegen sind. Mit anderen Worten: Während der AKP-Periode haben sich das Handels- und das Leistungsbilanzdefizit nicht aufgrund relativ steigender Importe vergrößert, sondern vor allem infolge rasant fallender realer Exporte (d.h. in konstanten Preisen), was wiederum mit überbewerteten Wechselkursen zusammenhängt.

Leistungsbilanzdefizit

Die Türkei ist eines der Länder mit dem höchsten Anstieg des Leistungsbilanzdefizits. Wenn wir mit ein paar einfachen Beobachtungen anfangen, sehen wir, dass vor der AKP-Periode (1990 - 2002) die durchschnittliche Handelsbilanz relativ zum BIP 0.73 Prozent betrug. In der AKP-Periode war es dann -0,5 Prozent, was auf einen radikalen Anstieg hindeutet. Die erste Methode in Tabelle 1 stellt den Rang der Türkei in Bezug auf die Leistungsbilanz relativ zum BIP in beiden Perioden dar. Große Zahlen weisen auf ein kleineres Leistungsbilanzdefizit oder einen höheren Leistungsbilanzüberschuss hin. Beispielsweise hat in der AKP-Periode Grenada das höchste Leistungsbilanzdefizit im Verhältnis zum BIP (-25,7 Prozent). Grenada wurde an erste Stelle in der Liste gesetzt. Kuwait wiederum hatte den höchsten Leistungsbilanzüberschuss relativ zum BIP (31,3 Prozent) und wurde an 104. Stelle gesetzt. Unter 104 Ländern steht die Türkei an 77. Stelle vor der AKP-Periode und an 41. Stelle in der AKP-Periode. Die Türkei ist in der Liste also um 36 Plätze nach oben gestiegen, nur Island (45 Stufen) sowie Mauritius (42 Stufen) haben mehr Stufen als die Türkei übersprungen. Das heißt, der Anstieg des Leistungsbilanzdefizits der Türkei ist größer als bei den meisten anderen Ländern weltweit.

Tabelle 1: Der Rang der Türkei in der Welt in Bezug auf die Leistungsbilanz mit alternativen Methoden
Methode
Vor der AKP Periode
(1990-2002)
AKP Periode

(2003-2011)
Unterschied
1.Leistungsbilanz relativ zum BIP
77
41
36
2. Änderung der Leistungsbilanz relativ zum BIP (alternative Methode)
60
14
46
3. Änderung der Leistungsbilanz (kumulative Index Methode).
25
6
19
Notiz: Große Zahlen weisen auf ein geringeres Defizit oder einen größeren Leistungsbilanzüberschuss hin. Die Kalkulationen beinhalten 104 Länder.
Quelle: berechnet aus „World Development Indicators“

Diese Trends werden von Grafik 4, die die Unterschiede zwischen der Leistungsbilanz der Türkei und den Einkommensgruppen, die vorher benutzt wurden, bestätigt. Die Daten zeigen ein klares Bild. Die Leistungsbilanz der Türkei verschlechtert sich viel schneller während der AKP-Periode als die aller anderen Einkommensgruppen.


Auslandsschulden

Schnell ansteigende Auslandsschulden, die mit hohem Leistungs- und Handelsbilanzdefizit einhergehen, sind eine andere wichtige Schwäche der türkischen Wirtschaft. Während das Handelsbilanzdefizit und die Auslandsschulden eng miteinander zusammenhängen, fallen nicht alle geliehenen Gelder in die Kategorie der externen Schulden. Auslandsschulden beinhalten beispielsweise nicht die Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit dem Zufluss von ausländischen Direktinvestition, Portfolioinvestitionen in Eigenkapital oder netto-Eigenkapital bei ausländischen Lebensversicherungen und Pensionsfonds. Deswegen offenbaren die Auslandschulden nicht die mit „unerwartet versiegenden Kapitalzuflüssen“ und „Umkehr der Leistungsbilanz“ verbundenen realen Risiken. Die „internationalen Investitionspositionen“ (IIP), die die Differenz zwischen den externen Aktivposten und Verbindlichkeiten eines Landes darstellen, sind ein brauchbares alternatives Konzept.

Jedoch gibt es Gründe, an der Richtigkeit der IIP-Kalkulationen der türkischen Zentralbank zu zweifeln. Ein relativ zaghafter Anstieg der IIP relativ zum BIP ist überraschend in einem Land, in dem das Leistungsbilanzdefizit einen rasanten Anstieg erfahren hat. Wenn die Anpassungen an IIP infolge von Wechselkursschwankungen und Veränderungen des Marktpreises [Veränderungen des Marktwerts einer Investition oder Finanzanlage über eine bestimmte Zeitspanne, Anm. d. Red.] nicht beachtet werden, ist IIP nicht mehr als eine kumulative Kalkulation der Leistungsbilanz und kann somit als „gegenwärtiger Kontostand“ betrachtet werden. Die Beurteilung der Genauigkeit der IIP-Kalkulationen der Zentralbank ist nicht leicht. Während Daten zur Zahlungsbilanz leicht zugänglich sind, sind es Informationen zur Kalkulation des Einflusses von Veränderungen im Marktpreis nicht. Der Einfluss der Wechselkursschwankungen ist auch schwer zu kalkulieren. Hingegen kann man IIP leichter berechnen, indem man allein die „externe netto Kreditaufnahme“ (IIPBP) benutzt und die (oben genannte) Anpassung nicht in Erwägung zieht. Weil IIPBP die Anpassungen an die Kalkulationen von IIP ausschließt, stellt es eher die „externe netto Kreditaufnahme“ dar als den „externen Schuldenstand“. Wenn es keine Wechselkursschwankungen und Veränderungen in den Marktpreisen gäbe, wären die netto Kreditaufnahme im Ausland und die netto Schulden gleich, der Unterschied zwischen diesen beiden Maßstäben (IIP und IIPBP) läge bei null.

Im Normalfall sollte die externe netto Kreditaufnahme (IIPBP) eines Landes geringer sein als der externe netto Schuldenstand (IIP), weil Investoren erwarten würden, mit ihren Investitionen in der Türkei Gewinne zu erwirtschaften. Falls, aus irgendeinem Grund, der „externe netto Schuldenstand“ niedriger wäre als die „externe netto Kreditaufnahme“, würden die Investoren Verluste machen. Während es nicht außergewöhnlich ist, dass Investoren von Zeit zu Zeit Verluste aufgrund von Wechselkursschwankungen oder Veränderungen in den Marktpreisen machen, wäre es doch komisch, wenn sie weiterhin in eine Wirtschaft investieren würden, in der sie systematisch und langfristig Verluste machen.

Weil also solche Verluste langfristig keinen Sinn machen, kann man vermuten, dass etwas mit der Kalkulation beim IIP falsch ist. Angenommen, IIPBP ist ein exaktes Maß der externen netto Kreditaufnahme der Türkei und die ausländischen Investoren profitieren von ihren Investitionen in der Türkei, so reflektiert selbst der radikale Anstieg von IIPBP während der AKP-Periode nicht das wirkliche Ausmaß des externen netto-Schuldenstands der Türkei.

Zum Schluss sollte man die "netto Fehler und Auslassungen", die unter der AKP Regierung systematisch ansteigen, näher betrachten. Vor der AKP-Regierung waren die netto Fehler und Auslassungen relativ gering und hatten positive wie negative Werte. Aber in der AKP-Periode blieben sie konsequent positiv und wurden größer. 2011 beliefen sie sich auf 11,4 Milliarden US-Dollar und betrugen somit 1,5 Prozent des BIP. Im Juli 2013 haben sie in einem Monat 4,8 Milliarden US-Dollar erreicht. Das zeigt, dass die Türkei unter der AKP-Regierung umfangreiche Kapitalzuflüsse aus unbekannten Quellen erhalten hat. Wenn man nun diese Kapitalzuflüsse aus unbekannten Quellen berücksichtigt, steigt das IIPBP relativ zum BIP erheblich von 41 Prozent auf 46 Prozent im Jahr 2012 (Grafik 5).

Fazit

Die AKP-Periode ist geprägt von einem radikalen Anstieg an Kapitalzuflüssen. Dennoch stimuliert dieser Anstieg viel eher den inländischen Konsum als Investitionen und Wirtschaftswachstum. Obwohl beachtliche externe Gelder angezogen werden konnten, ist das Wirtschaftswachstum der Türkei mäßig und blieb geringer als das der mittleren und niedrigen Einkommensländer. Obwohl das Wirtschaftswachstum von externen Ressourcen und von einem Anstieg des Leistungsbilanzdefizits abhängig wurde, legte die Regierung dies ungeachtet der Folgewirkungen als Grund zur Freude aus. Der Punkt ist, dass es der Türkei mit der gegenwärtigen Entwicklungsstrategie nicht möglich sein wird, auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zu gelangen.

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Dieser Beitrag basiert auf dem Artikel des Autors „The Political Economy of Turkey's Economic Miracle”, erschienen in Journal of Balkan and Near Eastern Studies, Volume 16, Issue 2, 2014.


Turan Subaşat arbeitet an der Universität Muğla, Fachbereich Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften.