Samstag, 8. August 2015

Deindustrialisierung in der Türkei: makroökonomische Verschiebungen in Richtung Bau, Handel und Dienstleistung

Von Mustafa Sönmez

Eine Analyse der Wirtschaftspolitik in der AKP-Ära anhand der Nutzung von Krediten offenbart eine Orientierung auf den Bau-, Handels- und Dienstleistungssektor und im Gegenzug eine Schwächung produzierender Sektoren. Diese Strategie verspricht zwar hohe Gewinne für die Investoren aber keine nachhaltige Entwicklung für die Gesamtökonomie.

Die Wirtschaftspolitik der 12-jährigen AKP-Ära hat die Industrieproduktion in den Hintergrund gedrängt und die auf Spekulationsgewinne in Istanbul fokussierte Bauwirtschaft, den Einzelhandel und Dienstleistungssektoren gefördert. Diese Sektoren zeichnen sich durch hohe Auslandsverschuldung und starke Wechselkursrisiken aus. Dies schwächt zum einen die Möglichkeiten der Türkei, Devisen zu nutzen, zum anderen verliert die Industrie dadurch an Wettbewerbskraft. Auch neue Zahlen belegen, dass sich die Türkei von der Industrieproduktion entfernt und am Bau-, Handels- und Dienstleistungssektor orientiert. Die von der Zentralbank veröffentlichten Zahlen für September 2014 zeigen die Entwicklung der langfristigen Auslandsschulden der Privatwirtschaft seit 2002. Die Nutzung von Krediten in anderen Sektoren als der Produktion belegen, dass sich diese Entwicklung in den letzten 12 Jahren verfestigt hat.

Statt Industrie eine neue Bau-Ära

Laut den Zahlen der Türkischen Zentralbank hatten Privatfirmen 2002 rund 27 Prozent der Auslandskredite in Höhe von 29 Mrd. Dollar für Investitionen in die Industrieproduktion genutzt. 2014 hatte sich die Summe der Kredite auf 164 Mrd. Dollar erhöht, während der für die industrielle Produktion verwendete Anteil auf 13,6 Prozent (22,2 Mrd. Dollar) zurückging. Circa 40 Prozent der gesamten Auslandsverschuldung von rund 402 Mrd. Dollar fällt auf die langfristigen Auslandskredite der Privatwirtschaft. Die kurzfristigen Kredite der Privatwirtschaft und die Auslandsverschuldung der öffentlichen Hand machen insgesamt 238 Mrd. Dollar aus [1].

Die sektorale Verteilung und die jährlichen Veränderungen der langfristigen Auslandskredite der Privatwirtschaft untermauern die beschriebene Entwicklung. Diese Kredite wurden mehrheitlich von Privatbanken vermittelt und im Inland an Konsument*innen und Firmen vergeben. Während die Auslandskredite der Banken in 2002 rund 3 Mrd. Dollar betrugen, erhöhten sie sich im September 2014 auf 63 Mrd. Dollar. Bei der sektoralen Verteilung der langfristigen Auslandskredite zwischen den Jahren 2002 und 2014 ist die Konzentrierung auf Bau- und Immobiliensektor besonders deutlich. Während die Firmen in diesen Sektoren 2002 rund 1,5 Mrd. Dollar Kredite aufnahmen, erhöhte sich diese Summe 2014 auf 13 Mrd. Dollar. Ihr Anteil an der Gesamtsumme erhöhte sich von 5 auf 8 Prozent.

Die Transport- und Kommunikationssektoren haben ihren Anteil von 3,6 auf 7 Prozent erhöht. Es ist bekannt, dass insbesondere die private Luftfahrt (THY-Turkish Airlines) und Handynetzbetreiber die meisten Kredite aufnehmen. Die Energiewirtschaft, die [im Zuge des Verkaufs ehedem öffentlicher Unternehmen, Anm. d. Red.] mit 62 Mrd. Dollar rund 35 Prozent der Privatisierungserlöse eingebracht hat, nutzte bei diesen Privatisierungsmaßnahmen überwiegend Auslandskredite. Bei der Privatisierung der Stromverteilungs-Netzbetriebe und der öffentlichen Stromkraftwerke haben sich die Firmen im Ausland mit 9 Mrd. Dollar verschuldet.

Deindustrialisierung

Tabelle 1: Die sektorale Orientierung der Auslandskredite der Privatwirtschaft (in: Mio. Dollar)

Gesamt
Banken
Dienst-leistungen
Produktion
Strom-Gas
Sonstige
2002
29.202
3.061
9.171
7.762
4.223
4.985
2006
82.285
22.234
20.445
17.329
3.586
18.691
2010
119.835
28.755
43.031
22.899
9.443
15.706
2014-3.Q
163.585
63.296
51.911
22.254
9.170
16.955
Hinweis: Die Berechnungen basieren auf Zahlen der Türkischen Zentralbank

In den verschiedenen Bereichen der Produktion sind unterschiedliche Entwicklungen zu verfolgen: Der Anteil der Sektoren mit niedrigem Mehrwert wie Nahrung, Getränke oder Tabakproduktion ist von 4 Prozent (2002) auf 2,5 Prozent (2014) zurückgegangen. In der Textilproduktion ist ein ähnlicher Rückgang zu beobachten: Der Anteil dieses Sektors an den Auslandskrediten ist von 4 Prozent auf 1,6 Prozent gefallen. In der Metallindustrie, vor allem der Stahlindustrie, ist ein Rückgang von 4 auf 2 Prozent zu verzeichnen, ebenso im Automobil- und Schiffsbau. Ein starker Rückgang fand in der Chemieindustrie statt: von 3,6 auf 1 Prozent. In der Summe lässt sich festhalten: Während 2003 noch 42,5 Prozent der Bankkredite in die industrielle Produktion flossen, sank dieser Anteil 2014 auf 21 Prozent. All dies weist auf das enorme Ausmaß der Deindustrialisierung in der Türkei hin [2].

Bankenkredite und sektorale Verteilung

Die Orientierung auf die Bauwirtschaft und andere Dienstleistungssektoren während der Periode des Wirtschaftswachstums kann auch bei den Bankkrediten in Türkischer Lira beobachtet werden. Laut den Feststellungen des Generaldirektoriats für Banken und Finanzinstitute der Zentralbank haben sich, während das durch Auslandskredite finanzierte Kreditvolumen rasant wuchs, in den kreditaufnehmenden Sektoren zwischen 2003 und 2014 wichtige Veränderungen ergeben. In 2003 betrugen die Kredite der Banken an Firmen und Konsument*innen rund 69,6 Mrd. Türkische Lira, was 15,2 Prozent des BIP entsprach. Aufgrund des weltweiten konjunkturellen Liquiditätsüberflusses wuchs das Kreditvolumen der Banken rasant. Im September 2014 belief sich das gesamte Kreditvolumen auf 1.195 Mrd. Türkische Lira (446 Mrd. Euro). Das bedeutet ein Kreditvolumen von 67,8 Prozent des BIP. Dieser Anstieg des Kreditvolumens von 15 auf 67,8 Prozent des BIP regte das binnenwirtschaftliche Wachstum an.

Bei den Kreditvergaben lagen die Konsumentenkredite vorne. 2013 war deren Anteil von 10 auf 26 Prozent gewachsen. Während Wohnungsfinanzierungen rund ein Drittel der Kredite ausmachten, waren Bedarfskredite für die Begleichung von Kreditkartenschulden deutlich gestiegen. In den letzten 12 Jahren, in denen ein rasanter Anstieg des Einzelhandels, des Importes und des Baus von Einkaufszentren zu beobachten war, hat sich der Anteil des Handelssektors an den Bankkrediten von 10,5 auf 14 Prozent erhöht. Der Bau- und Immobiliensektor, der durch die Wohnungsfinanzierungen rasant wuchs, hat seinen Anteil an den Bankkrediten von 8,3 Prozent (2003) auf 11,5 Prozent (2014) erhöht. Während sich der Anteil des Transport- und Kommunikationssektors, vor allem der zivilen Luftfahrt und der Handynetze bei 5 bis 6 Prozent hielt, trat der Energiesektor mit 5 Prozent der Bankkredite in Erscheinung.

Die beschriebenen Verschiebungen lassen sich auch am rückläufigen Anteil der Binnenmarktsektoren am BIP ablesen. Dieser Rückgang beschleunigte sich in den 2000er Jahren, nachdem in den 1980er Jahren die staatlichen Wirtschaftsunternehmen privatisiert und die öffentliche Hand aus der Industrie heraus gedrängt worden war. Während 2003 der Anteil der Industrieproduktion am BIP 17,6 Prozent betrug, hat er sich in den nachfolgenden Jahren nicht erhöht und fiel 2013 auf 15,3 Prozent. Im ersten Halbjahr 2014 wurde dieser Anteil mit 16,3 Prozent notiert. Demgegenüber hat sich der Anteil des Bau- und Immobiliensektors von 12,5 (2003) auf 14,4 Prozent (2013) erhöht. Im ersten Halbjahr 2014 wurden 15 Prozent notiert.

Tabelle 2: Die Anteile der Industrieproduktion und des Bau- und Immobiliensektors am BIP: 2003 - 2014 2.Q. (in Prozent)

2003
2005
2007
2009
2011
2013
2014 2.Q.
Industrieproduktion
17,6
17,1
16,7
15,1
16,1
15,3
16,3
Bau/Immobilien
12,5
13,9
15,9
16,5
14,7
14,4
15,0

Fazit

Aufgrund der Geldpolitik in den letzten Jahren kam es zu einer relativen Überbewertung der Türkischen Lira [insbesondere durch hohe Zinsen, Anm. d. Red.]. Für die Unternehmen wurde es attraktiver, anstatt in die Produktion in andere Sektoren zu investieren, die eine höhere Rentabilität versprachen. 2013 wuchsen im Industriesektor zwar die Produktion, die Kapazitätsnutzung, die Beschäftigung und der Importanteil, aber die privaten Investitionen und der Export nahmen ab. Während zwischen Januar und August 2014 in Produktion, Export und Beschäftigung zwar eine Erhöhung zu beobachten ist, wird bei Import und Kapazitätsnutzung ein Rückgang festgestellt. Die Privatinvestitionen blieben dagegen auch im zweiten Halbjahr 2014 rückläufig. Aktuell werden die Abhängigkeit vom Auslandskapital und das wachsende Handelsbilanzdefizit von einem Rückgang in der Binnennachfrage begleitet. Die niedrige Nachfrage an den internationalen Märkten sowie die negativen Entwicklungen im Exportmarkt „Naher Osten“ verstärken die Tendenz, dass Industrieexport und Industrieproduktion sich nur gering erhöhen. Aus diesen Gründen bleibt der Anteil der Industrieproduktion am BIP in der Tendenz weiterhin rückläufig.

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[1] Kurzfristige Kredite laufen kürzer als 12 Monate, sind daher gegenüber Währungskursschwankungen sehr anfällig und werden als risikobehaftet angesehen (Anm. d. Red.).

[2] Üblicherweise werden in der makroökonomischen Disziplin derartige sektorale Verschiebungen in relativen Zahlen gemessen. In Relation zum Bruttoinlandsprodukt und zu den anderen Sektoren sind die Investitionen in die industrielle Produktion gesunken, was in der Fachsprache - für den Laien möglicherweise irreführend - „Deindustrialisierung“ genannt wird. In absoluten Zahlen ist aber immer noch eine Verdreifachung der Investitionen in die Produktion festzustellen, wenngleich der relative Anteil stetig sinkt (Anm. d. Red).

Mustafa Sönmez schreibt hauptsächlich zu Themen der Politischen Ökonomie der Türkei und hat derzeit eine regelmäßige Kolumne bei der Tageszeitung Birgün und der Hürriyet Daily News.