Donnerstag, 26. Februar 2015

War Gezi eine Rebellion der Mittelklasse? Reflektionen über den Klassencharakter sozialer Bewegungen

Von Cenk Saraçoğlu

Stellen die Aufstände der vergangenen Jahre eine Rebellion der Mittelklassen dar? Kann der Inhalt einer Bewegung über das individuelle Profil der Teilnehmenden erschlossen werden? Cenk Saraçoğlu legt dar, warum die Charakterisierung eines Aufstands von der Frage ausgehen sollte, ob und wie er Widersprüche und Besonderheiten einer sozialen Formation sichtbar macht und politisiert.

Die Rebellionen der vergangenen Jahre sind von regen intellektuellen Debatten begleitet. Die enge Aufeinanderfolge in verschiedenen Ländern hat in Verbindung mit ähnlichen Motiven und Symbolen die Suche nach länderübergreifenden Erklärungen befördert. Dass die meisten Rebellionen nach Beginn der kapitalistischen Krise im Jahr 2009 ausbrachen, lenkte die Suche auf die sozialen und politischen Folgen des Neoliberalismus. Von einem globalen Zusammenhang ausgehend ragt aus der Fülle an Literatur ein Erklärungsansatz heraus, der die Rebellionen anhand des individuellen Profils der Protestierenden zu charakterisieren versucht. Besonders bemerkbar macht sich dieser Ansatz in der Interpretation der Proteste als “Rebellion der Mittelklasse”.

Auch im Hinblick auf die Türkei, wo die Rebellion im Juni 2013 sich unter Beteiligung von Millionen vom Istanbuler Gezi-Park auf das ganze Land ausbreitete, lässt sich eine solche Suchbewegung feststellen. Im Folgenden nehme ich anhand eines prominenten Beispiels – eine Rede des Soziologen Loïc Wacquants über den Klassencharakter von Gezi - die „Mittelklassenthese“ unter die Lupe. Ich beginne mit der Erörterung zentraler Vorannahmen, zeige Schwachstellen auf und führe einige Überlegungen an, wie ein alternativer Rahmen zur Analyse sozialer Bewegungen und Aufstände im Allgemeinen und des Gezi-Aufstands im Besonderen aussehen könnte.

Die Mittelklassenthese

Obgleich diejenigen Ansätze, die den Gezi-Aufstand als eine „Rebellion der Mittelklasse“ begreifen, unterschiedliche Definitionen des Begriffs „Mittelklasse“ beinhalten, stimmen sie in einigen Vorannahmen überein. Zur Charakterisierung der Protestierenden als Mittelklasse werden im Kontrast zu einem stereotypen Bild eines Arbeiters oder Armen bestimmte Unterscheidungsmerkmale wie urbane Lifestyles, Vorlieben für gewisse Kommunikationsmedien, Organisierungsmuster, Parolen und Konsumgewohnheiten sowie das Bildungsniveau herangezogen. Davon ausgehend, dass der Aufstand vorwiegend von solcherart identifizierbaren Angehörigen einer Mittelklasse getragen wurde, werden Aussagen über seinen besonderen Charakter getroffen. In Abhängigkeit vom theoretischen Gehalt und der politischen Mission, die die jeweiligen Autoren der Mittelklasse zuschreiben, werden dann Vorschläge formuliert, welche Bedeutung dem Aufstand in Bezug auf die sozialen und politischen Dynamiken in der Türkei zukommt.

Diese Vorgehensweise – die Identifikation der Klassenzugehörigkeit anhand bestimmter Unterscheidungsmerkmale und die daran anschließende Ableitung politischer Konsequenzen – kann auf zweierlei Weise kritisiert werden. Erstens können die empirischen Befunde selbst hinterfragt werden. Zweitens kann eine Debatte eröffnet werden, wie gut die Bezeichnung „Mittelklasse“ wirklich geeignet ist, um die Beweggründe der Protestierenden und den Charakter des Aufstands zu begreifen.

Die allermeisten Arbeiten, die ein Übergewicht der Mittelklasse behaupten, können dies nicht mit einer systematischen Datenerhebung belegen. Außerdem ist die These auf eine relativ kleine Gruppe im Gezi-Park begrenzt, von der zwar die Initialzündung ausging, die jedoch angesichts einer sich in fast alle größeren Städte ausbreitenden und ein sehr heterogenes Bild abgebenden Protestwelle einen zeitlich wie räumlich außerordentlich kleinen Ausschnitt repräsentiert. In sehr kurzer Zeit transformierte sich die Parkbesetzung zu einem landesweiten Aufstand, dem sich unterschiedliche Gruppen anschlossen und dessen verbindendes Element die Gegnerschaft zur AKP wurde. Kurzum, die zeitliche wie räumliche empirische Grundlage für die Mittelklassenthese ist weit davon entfernt, den Aufstand in seiner Breite fassen zu können.

Die zweite Kritik bezieht sich auf den Vorgang, eine kausale Beziehung zwischen dem Profil eines durchschnittlichen Protestierenden und dem Charakter/Inhalt einer sozialen Bewegung herzustellen. Während die erste Behauptung, es hätten überwiegend Mittelklassenangehörige teilgenommen, durch die Hinterfragung der empirischen Grundlagen kritisiert werden kann, müssen an die zweite Behauptung, vom (vermeintlichen) Profil der Teilnehmenden unmittelbar auf einen mittelklassenspezifischen Charakter des Aufstands zu schließen, weitergehende Fragen gerichtet werden, die eine Diskussion gewisser Vorannahmen notwendig machen. So ist zu fragen: Kann der Inhalt einer Bewegung oder eines Aufstands („was ihn ausmacht“) über das individuelle Profil der Teilnehmenden erschlossen werden? Sollte der Versuch, den Charakter einer Bewegung zu begreifen, mit der Bestimmung von gemeinsamen Eigenschaften der Teilnehmenden beginnen?

Der mittelklassenbasierte Erklärungsansatz bejaht diese Fragen auf der Grundlage eines methodologischen Individualismus. Damit meine ich ein wissenschaftliches Grundverständnis, wonach weitgreifende soziale Prozesse auf der Basis rationaler Entscheidungen teilnehmender Einzelpersonen begriffen werden können, die wiederum als autonome soziale Akteure ausgestattet mit einem zielgerichteten Willen vorgestellt werden. In der Literatur über soziale Bewegungen entspricht dieser Ansatz denjenigen Modellen, die den Charakter einer Bewegung oder einer kollektiven Aktion anhand von Wertvorstellungen teilnehmender Personen, den diesen Werten entsprechenden Interessen und daraus resultierenden Entscheidungen erklären.

Gezi aus den Augen Loïc Wacquants

Ein prominentes Beispiel für diese Vorgehensweise stellt die in akademischen Kreisen viel Aufsehen erregende Rede Loïc Wacquants an einer Istanbuler Universität Anfang 2014 dar, in der er auch eine Bewertung des Gezi-Aufstands vornahm. Nun lässt sich fragen, warum aus der Fülle an Literatur ausgerechnet eine Rede Wacquants ausgesucht wird. Wacquant ist ein bedeutender Soziologe und seine Arbeiten über Klassenpraktiken in urbanen Räumen und die daraus gewonnenen Begriffe und Ansätze werden international beachtet. In Bezug auf Gezi entwickelt er einen Ansatz, dessen Vorannahmen und politische Schlussfolgerungen von vielen anderen, die über die Bedeutung von Gezi schreiben, mehr oder weniger geteilt werden.

Wacquants Argumentation lautet zusammengefasst wie folgt: Städte sind Zentren, in denen kulturelle, ökonomische, symbolische und politische Kapitalsorten akkumuliert, ausdifferenziert und entwickelt werden, miteinander in Verbindung treten und kämpfen. In der neoliberalen Periode findet ein Angriff des ökonomischen Kapitals (kommerzielle Interessen) und des politischen Kapitals (die Autorität des Staates) auf die urbanen Räume statt, gegen den sich in jüngerer Zeit die über kulturelles Kapital verfügende urbane Mittelklasse als widerständiges Subjekt formiert, wobei es angesichts der Intensität des neoliberalen Angriffs und der durch ihn hervorgerufenen Polarisierung erstaunlich ist, wie selten widerständige Aktionen sind. Dass gegenwärtig nicht die „popularen Klassen“, das Proletariat oder die städtischen Armen den Widerstand in den Städten tragen, sondern eine „kulturelle Bourgeoisie“, liegt an der neuen Struktur der Marginalisierung, die der Neoliberalismus in den Städten hervorbringt. Diese Struktur hat die widerständigen Subjekte des Fordismus – die städtischen Armen und das Proletariat – geschwächt, gar politisch und ideologisch entwaffnet. Dahinter verbirgt sich die Normalisierung sozialer Unsicherheit (materielle Gewalt) und damit verbundene Prozesse der Ausgrenzung, Fragmentierung und Kriminalisierung der städtischen Armen mittels einer Reihe rassistischer und ethnischer Zuschreibungen (symbolische Gewalt).

Wacquant interpretiert den Gezi-Aufstand vor diesem Hintergrund als den Widerstand einer „neuen kulturellen Bourgeoisie“ bestehend aus der urbanen Mittelklasse, den Intellektuellen und gut ausgebildeten Freiberuflern, die ihr kulturelles Kapital ausbauen und gegen die Invasion des ökonomischen und politischen Kapitals verteidigen wollen. Neben dieser Kampfansage an das ökonomische und politische Kapital im Namen der Verteidigung ihres kulturellen Kapitals tendiere die Mittelklasse indessen zur Exklusion der niederen Klassen, indem sie den urbanen Raum mit ihren kulturellen Inhalten und Praktiken besetze. Wacquant führt als Beleg an, dass der Gezi-Park zum urbanen Lifestyle der Mittelklasse gehöre und dass die Sorge um den Verlust dieses Ortes, den Beweggrund zum Aufstand darstellte. Er vergleicht den Park mit einem Pariser Park, der von der „kulturellen Bourgeoisie“ benutzt werde. Nun ist allen einigermaßen Kundigen bekannt, dass der Gezi-Park wenig mit einem Luxuspark gemein hat. Die Benutzer des Parks sind nicht die Reichen oder die gehobenen Schichten der Stadt, viel eher lässt sich das Gegenteil behaupten. Der Vergleich, den Wacquant zieht, legt offen, dass seine Analyse nicht nur auf problematischen sondern auch auf falschen Informationen beruht [1].

Engführungen des methodologischen Individualismus

Doch selbst wenn die Informationen hinsichtlich des durchschnittlichen Profils und der Nutzung des Parks verlässlich und begründet wären, so bleibt doch die Logik bestehen, von diesen Informationen auf den Charakter des Aufstands als „Rebellion der Mittelklasse“ zu schließen. Im Folgenden soll es nun darum gehen, diese Logik, die den methodologischen Individualismus auszeichnet, zu hinterfragen.

Der methodologische Individualismus macht sich an zwei Punkten bemerkbar. Erstens an der Bestimmung des Begriffs Klasse, wie aus der inhaltlichen Auslegung des Begriffs Mittelklasse erschlossen werden kann. Klasse ist in Wacquants Verständnis nicht ein kollektives Subjekt, das auf der Grundlage einer objektiven Position in den Produktionsverhältnissen über politische Beziehungen/Kämpfe eine konkrete Gestalt annimmt. Bei Wacquant wie auch bei vielen anderen Ansätzen, die mit dem Begriff Mittelklasse operieren, ist Klasse vielmehr eine Kategorie, die eine Schicht bezeichnet, der eine Einzelperson aufgrund ihres Anteils an den gesellschaftlichen Ressourcen angehört. Aus dieser Bestimmung folgt, dass Klasse als eine Ansammlung von Einzelpersonen mit ähnlichen Positionen innerhalb einer sozialen Hierarchie begriffen wird. Klasseninteresse entsteht dann über die Wahrnehmung des positionsgebundenen Nutzens und Klassenkampf ist die kollektive Verteidigung dieses Interesses gegenüber anderen Klassen oder Gruppen.

Der methodologische Individualismus macht sich, zweitens, an der Auffassung bemerkbar, wie eine soziale Bewegung entsteht und sich entwickelt. Demnach ist der Gezi-Aufstand eine kollektive Aktion von Einzelpersonen, die gemäß der von ihnen wahrgenommenen Interessen und Werte eine rationale Entscheidung treffen und sich versammeln, um zu rebellieren. Wenn die Bedingungen, die die Einzelnen zum Widerstand motivierten, aufgehoben sind, wird auch der Widerstand sich auflösen. Das Bewusstsein, mit dem die Teilnehmenden anfangen zu rebellieren und in dem der Durchschnitt ihrer Interessen und Werte abgebildet ist, entscheidet hier über den Charakter des Widerstands.

Hieran ist zu kritisieren, dass der Einfluss übergeordneter politischer und ideologischer Prozesse auf das Bewusstsein und die Aktivitäten der Protestierenden außen vor bleibt. Es ist aber zu unterstreichen, dass diese Prozesse eine Wirkung entfalten können, die über die Position der Einzelnen in einer sozialen Hierarchie hinausweist. Anders formuliert, es muss nicht unbedingt eine absolute Übereinstimmung zwischen der Motivation Einzelner zur Teilnahme an einer kollektiven Aktion (ihrem Bewusstsein) und ihrer Position in einer gegebenen sozialen Hierarchie bestehen. Gleichermaßen bleibt die verändernde Wirkung einer kollektiven Aktion bei einer solchen Betrachtung außen vor. Dies trifft auf die Teilnehmenden zu, die sich in und durch einen Prozess verändern (können). Und es trifft auf den Verlauf der Kämpfe in einem Land zu. Eine soziale Bewegung oder Aktion erhöht parallel zur Wirkung, die sie entfaltet, die Sichtbarkeit politischer Kämpfe in einem gegebenen Land und kann diese Kämpfe zuspitzen. Eine Bewegung kann durch ihre Forderungen und Aktionen politisierend wirken, sie ist daher mehr als der Durchschnitt an Interessen und Werten der Teilnehmenden. Sie kann über die Einzelnen hinaus und auf diese rückwirkend eine Dynamik entfalten.

Außerdem verliert die Mittelklassenthese, die den Charakter der Bewegung mit den Eigenschaften der Teilnehmenden erklärt, die Gegenseite aus dem Blick. Die Besonderheiten der AKP, ihre ideologische Positionierung und politischen Strategien sowie Reaktionen auf den Aufstand bleiben unterbelichtet. Deutlich werden diese Schwächen in Wacquants Bezeichnung der Protestierenden als „kulturelle Bourgeoisie“, die ihr „kulturelles Kapital“ erhöhen möchte, und in seiner Behauptung, dieses Interesse stelle eine Barriere zwischen den Armen und der Mittelklasse dar. Die über die Gegnerschaft zur AKP hergestellte Breite des Aufstands, die Solidarität unter den Protestierenden und das hartnäckige Ausharren trotz immenser Gewalt finden in dieser Erklärung keinen Platz. Gleichermaßen wird die Rolle der über die Einzelnen hinausweisenden gesellschaftlichen Dynamiken und historischen Bedingungen für das Entstehen einer Bewegung oder eines Aufstands nicht erfasst.

Klassen und soziale Formationen

Die Kritik an der Mittelklassenthese liefert Anhaltspunkte für einen alternativen Interpretationsrahmen, der den historischen Entstehungszusammenhang berücksichtigt; der die Besonderheiten der sozialen und politischen Kräfte, gegen die sich der Aufstand formiert hat, in die Analyse einbezieht; und der die verändernde Wirkung der Bewegung und des Aufstands auf die Teilnehmenden und den Verlauf der politischen Kämpfe erfasst.

Zur Beantwortung der Frage, auf welcher historischen Grundlage der Aufstand entstand, wogegen er sich richtete und welche Wirkung er hinterlässt - „was ihn ausmacht“ -, braucht es einen Begriff, der eine gemeinsame Diskussion dieser Aspekte erlaubt. Der Begriff „soziale Formation“ bietet diese Möglichkeit. Eine soziale Formation meint die spezifische Einheit, die die kapitalistische Produktionsweise mit politischen und ideologischen Formen und Inhalten eingeht. Konkreter heißt dies, dass die Besonderheiten der AKP und ihrer Strategien, gegen die sich der Aufstand formierte, und die Wirkung, die der Aufstand auf die Entwicklung der politischen und ideologischen Ausprägungen der sozialen Formation entfaltet, zu berücksichtigen ist. So stand bis zuletzt eine Auflehnung gegen die AKP im Zentrum des Aufstands. Zur Beantwortung der Frage, was den Aufstand ausmachte, ist diese Stimmung gegen die AKP zentral. Dieser Stimmung gingen Erfahrungen und Kämpfe voraus, denen verschiedene Ursachen zugrundeliegen. Das sind an zentraler Stelle: Die mit den konkreten Ausprägungen der neoliberalen Stadtpolitik unter der AKP verbundenen Verwerfungen, die Grenzen des islamisch-konservativen Hegemonieprojekts, die Engpässe der parlamentarischen Demokratie bei der Integration gesellschaftlicher Opposition, und der massive Einsatz von Gewalt zur Unterdrückung dieser Opposition. Zusammengenommen sind dies Symptome einer Hegemoniekrise, die bereits vor dem Aufstand bestanden [s.a. die anderen Beiträge in der neunten Ausgabe von Infobrief Türkei].

Aus dieser Perspektive betrachtet wird der Charakter des Gezi-Aufstands nicht durch die anfängliche Parkbesetzung und die vermeintliche soziale Position der ParkbesetzerInnen definiert, sondern durch die Erfahrungen und Kämpfe, die dem Aufstand vorausgingen, in ihn eingingen sowie durch die (potentiellen) politischen Auswirkungen, die in der Zuspitzung der Hegemoniekrise bestehen. Nach dem Aufstand war es für die AKP nicht mehr möglich, ihre vormalige Strategie, sich als fortschrittliche Kraft zu präsentieren, weiterzuführen. Demokratische Rechte und Freiheiten, Gerechtigkeit, Gleichheit und Säkularismus stehen nun nicht mehr unter ihrer Schirmherrschaft und können von der gesellschaftlichen Opposition neu besetzt werden.

Von hier aus lässt sich auch eine alternative Auffassung bezüglich des Klassencharakters des Aufstands formulieren. Gezi ist kein Klassenaufstand im Sinne eines unmittelbaren Ausdrucks konkreter ökonomischer Interessen, die in einer bestimmten sozialen Schicht geteilt werden. Auf diese Weise lässt sich der Klassencharakter des Aufstands – ganz abgesehen von der fragwürdigen empirischen Grundlage bei der Bestimmung des durchschnittlichen sozialen Profils - nicht bestimmen. Den Ausgangspunkt zur Bestimmung des Klassencharakters sollten vielmehr der politische Block und dessen Strategien der politischen und ideologischen Artikulation der kapitalistischen Produktionsweise („Hegemonieprojekt“), gegen die sich der Aufstand richtete, bilden. In dem Maße wie der Aufstand diese Artikulation  erschütterte und neue Wege für die Formierung einer gesellschaftlichen Opposition eröffnete, birgt er - unabhängig vom sozialen Profil der Teilnehmenden - einen Klassencharakter. Was einem sozialen Aufstand schließlich einen „Klasseninhalt“ gibt, ist nicht die durchschnittliche Position der Teilnehmenden in einer sozialen Hierarchie, sondern die Frage, ob und wie er immanente Widersprüche und Charakteristika einer sozialen Formation sichtbar macht und politisiert.

Die Analyse mit der Feststellung einer „Rebellion der Mittelklasse“ zu beginnen, kann weder die Dilemmata der AKP in jüngerer Zeit noch den Stellenwert der Erfahrungen aus vorausgegangenen Widerstandsaktionen und Protesten für Gezi erfassen. Beides passt nicht in ein Schema, das den Aufstand als Kampfansage einer „kulturellen Bourgeoisie“ begreift, die einen Raum exklusiv besetzen möchte. Sicherlich ist es nicht vollkommen irrelevant, welches soziale Profil in einer Bewegung überwiegt. Das Profil kann je nach Zusammenhang und Fragestellung kritische Informationen über eine Bewegung liefern. Mir geht es darum, dass dem sozialen Profil keine analytische Priorität verliehen wird, um den Charakter einer Bewegung zu bestimmen. Schließlich ist die Frage nach dem sozialen Charakter einer Bewegung nur im Rahmen einer historischen Einbettung in eine gegebene soziale Formation sinnvoll zu beantworten. Um den Gezi-Aufstand aber auch die anderen Aufstände der vergangenen fünf Jahre zu begreifen, bedarf es dieser Mühe der konkreten Bestimmung einer sozialen Formation, in denen sie auftauchen. Die Frage nach der Bedeutung des sozialen Profils kann innerhalb dieses Rahmens gestellt werden.

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[1] Die Rede von Loïc Wacquant kann hier nachgehört werden: http://istifhanem.com/2014/01/18/17ocakwacquantizlenim/

Aus dem Türkischen übersetzt von Errol Babacan.