Freitag, 27. Februar 2015

»Tag und Nacht auf der Straße und in den Parks« — Weibliche Formen des Widerstands nach Gezi

Vom Frauenforum Yoğurtçu

Die Aktionen von Frauen während der Gezi-Proteste – wie das Übermalen sexistischer Anti-Regime-Parolen – haben einen Freiraum geschaffen und feministischen Forderungen zur Sichtbarkeit verholfen. Während die Dynamik des Aufstands abgeebbt ist, geht das Frauenforum Yoğurtçu ohne Unterbrechung weiter.

Der Yoğurtçu-Park in Istanbul spielt in der Geschichte der Frauenbewegung eine wichtige Rolle. 1987 wollte sich eine Frau aus Çankırı von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden lassen. Als der Richter als Begründung für die Abweisung ihrer Klage notieren ließ, »eine Frau sollte den Stock auf ihrem Rücken und das Kind in ihrem Bauch stets fühlen«, war dies ein Fanal. Daraufhin organisierten Frauen am 17. Mai 1987 im Yoğurtçu-Park eine »Demonstration gegen die Gewalt« — die erste Massendemonstration der Frauenbewegung in der Türkei.

Eigentlich beginnt alles um unser heutiges Frauenforum mit dem Gezi-Widerstand. Um das Frauenforum im Yoğurtçu-Park verstehen zu können, muss man den Prozess des Gezi-Widerstands betrachten, an dem sich die Frauen anfänglich unorganisiert beteiligten.

Gezi war für uns Frauen und LGBT*-Angehörige sehr wichtig. Wir spielten sowohl bei der Organisierung der Kommune von Gezi als auch bei der Gestaltung unterschiedlicher Aktionsformen eine besondere Rolle. So konnten wir uns und unserer Stimme einen Freiraum schaffen: 2013, in der Woche im Gezi-Park, haben einige Feministinnen ihre Plakate aufgehängt. Daraufhin kamen zahlreiche Frauen zu ihnen, es entstand eine unvorhergesehene Gemeinsamkeit. Sie eröffneten dann zusammen ein »Frauenzelt«. In der Kommune von Gezi schafften sich die Frauen um das Zelt herum ihren Raum. Zwar waren die Feministinnen dabei federführend, aber organisierte und unorganisierte Frauen haben sich daran beteiligt. Nahezu alle Frauen, die in den Gezi-Park kamen, sahen die lila Fahnen und gingen sofort in das Frauenzelt. So konnten wir gemeinsam Politik gestalten.

5.000 Frauen unterschiedlicher politischer Auffassungen stellten dann in Galatasaray (Istanbul) die erste Frauen-Massendemonstration des Gezi-Widerstands auf die Beine: »Luft-Zone ohne Tayyip und Belästigung«. Es war sehr wichtig, dass wir als Frauen im Widerstand unsere eigene Perspektive aufzeigten. Zugleich konnten wir auch auf die Sprache des Widerstands Einfluss nehmen. Die Parolen im Gezi-Park waren meist sexistisch. Diese Sprache beleidigte Frauen und LGBT*-Angehörige. Es wurde bspw. ein Workshop zu Mackersprüchen und Flüchen organisiert. Auch wenn es so aussah, als ob wir nur über die Kritik an den sexistischen Parolen zusammenkamen, war dies auch ein gutes Instrument, um uns gegenseitig kennen und verstehen zu lernen. Rund um den Taksim-Platz haben wir sexistische Parolen übermalt. Wir erfanden die Parole »Nicht fluchen, beharrlich widerstehen«, und alle übernahmen sie. Wir kritisierten die »3-Kinder-Politik« der Regierung und haben gemeinsam mit Kopftuchträgerinnen einen Protest organisiert – eine Kopftuchträgerin war in Kabataş (Istanbul) belästigt worden. Unser Dasein als Frau war das einende Grundelement, unter dieser autoritären Atmosphäre spürten wir alle das Gemeinsame. Sogar Passantinnen und unorganisierte Frauen haben sich unserem Protest in Kabataş angeschlossen.

Nach der Auflösung der Gezi-Park-Besetzung am 15. Juni 2013 bildeten sich die Foren. Die Feministischen Kollektive Istanbul starteten einen Aufruf, anschließend bildeten sich sowohl auf der europäischen als auch auf der asiatischen Seite der Stadt die Frauenforen, so auch unser Frauenforum im Yoğurtçu-Park. Weil alle Foren sich nach dem jeweiligen Park benannten, in dem sie stattfanden, haben auch wir uns als Frauenforum Yoğurtçu bezeichnet.

Als Frauen des Gezi-Widerstandes handelten wir nach der Devise Rosa Luxemburgs »Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht« und trafen uns jeden Mittwoch im Yoğurtçu-Park. Die lilafarbenen Matratzen unter den mit Regenbogenfarben geschmückten Bäumen waren unser Treffpunkt. Natürlich fanden auch in anderen Stadtteilen und Parks weitere Frauenforen statt, darunter z.B. das Frauenforum Abbasağa, Frauenforum Maçka-Park oder das Frauenforum Özgürlük Parkı (Freiheitspark) in Göztepe. Aber das einzige Frauenforum, welches jede Woche zusammenkam und heute noch zusammenkommt, ist das Frauenforum Yoğurtçu.

Dieses Forum ist ein offener Raum für Frauen unterschiedlicher Identitäten und politischer Auffassungen. Als Frauen des Gezi-Widerstands wussten wir, dass die Straßen dieser Stadt uns die Freiheit bringen würden, aber gleichzeitig viele Gefahren bargen. Im Juni 2013, als der Widerstand sich vom Gezi-Park auf die anderen Parks verlagerte, waren wir dabei, unsere eigenen Stimmen zu finden. Für die Frauen des Widerstands, die sich zuvor nicht kannten und jeweils ihr eigenes Leben führten, aber unter den gleichen Problemen litten, wurde das Forum zu einem Begegnungsplatz, zur weiblichen Form des Widerstandes und dessen weibliche Stimme. Es entwickelte sich in Anknüpfung an den Gezi-Widerstand, konnte aber den »Geist von Gezi« transformieren. Dieser Geist wurde bspw. in den produktiven Beziehungen des Frauenforums Yoğurtçu vor Ort, in Kadıköy (Stadtteil von Istanbul), lebendig.

Das Frauenforum ist keine feste Organisation. Die Beteiligung basiert auf individueller Initiative. Das Frauenforum ist gegen Hierarchien und Repräsentation. Frauen, die in der gleichen Gewerkschaft oder einer Massenorganisation Mitglied waren, lernten sich erstmals auf unserem Forum kennen. So bot das Forum auch den bereits organisierten Frauen Anlass, sich zu hinterfragen: Sie konnten sowohl ihre eigenen Erfahrungen einbringen, als auch viel Neues in Erfahrung bringen. Das Frauenforum wurde zu einem Ort, in der organisierte wie unorganisierte Frauen zusammenkommen, gemeinsam Sprache und Formen des Frauenkampfes entwickeln, alle nach ihren Möglichkeiten am Kampf teilnehmen und Verantwortung übernehmen können. Ein Ort, in dem gleichberechtigtes Rederecht herrscht. Das Mikrophon bleibt nie lange bei einer Person. Während die gleiche Redezeit eingehalten wird, achten wir auf die Vielfältigkeit der Redebeiträge. Dieses Forum ist ein Ort, in dem Frauen aus unterschiedlichen Bereichen sich gegenseitig zuhören, versuchen, sich zu verstehen und eine gemeinsame Sprache zu finden. In diesem Sinne trägt das Forum zur Entwicklung einer Frauensprache bei.

In den letzten anderthalb Jahren wurden zahlreiche Themen aufgegriffen: Die Politik der AKP, Feminismen, Zuschreibungen, unser eigener Körper, unser Kampf usw. Natürlich thematisierten wir zuallererst den Gezi-Widerstand, der uns zusammengebracht hatte. Wir kritisierten auch, dass immer nur Männer über Gezi schrieben, und begannen, nachdem wir die männlichen Analysen hinter uns gelassen hatten, unsere eigenen Erfahrungen im Widerstand zu thematisieren. In Kadıköy organisierten wir viele Aktivitäten, an denen manche Frauen überhaupt zum ersten Mal teilnahmen. Eine Freundin der Frauenorganisation Mor Çatı (Lila Dach) half uns bei der Gründung einer geschlossenen Gruppe über sexuelle Belästigung, was in der Untersuchungshaft oft vorkommt. Nach einer sexuellen Belästigung während einer Verhaftung organisierten wir eine Demonstration zu der Polizeiwache und führten dort eine Pressekonferenz durch. Kurz nach Gezi haben wir mit den Frauen aus dem Stadtteil Yeldeğirmeni gemeinsam eine Demonstration für mehr Straßenbeleuchtung und gegen sexuelle Belästigung organisiert. Wir beteiligten uns an den Friedensaktivitäten von Frauen gegen den Krieg in Rojava. Wir feierten gemeinsam Silvester und gründeten Lesegruppen. Während der Kommunalwahlen formulierten wir unsere Wahlprüfsteine, veröffentlichten eine Broschüre und drehten einen Kurzfilm. Wir gingen auf die Straße mit der Losung »sexistische Kandidaten bekommen unsere Stimme nicht!«. Manchmal schauten wir uns gemeinsam Filme an. Wir diskutierten über die »Politik der Liebe« und kamen mit den Mitgliedern der Plattform »Abtreibung ist unser Recht. Nur Frauen entscheiden« zusammen. Am 8. März waren wir wieder auf den Straßen. Wir führten Diskussionsveranstaltungen zu den Themen »Sexuelle Orientierung und sexuelle Identität«, »Homophobie und Transphobie« durch und diskutierten über die sexuelle Gesundheit der Frau. Am Muttertag führten wir im Park die Aktion »Frauen werden den Muttertag lila anmalen« durch. Auch das Bergwerksunglück in Soma war Thema [1]. Mit den Frauen aus Soma diskutierten wir über Solidarität, mit der Fraueninitiative für den Frieden über die Ereignisse in Lice [2]. Wir beteiligten uns am Rojava-Forum im Park und danach an den Aktionen rund um den Antikriegstag am 1. September. Wir thematisierten den Militarismus und organisierten Unterstützung für die Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Rojava. Zur Unterstützung der Fraueninitiative, die sich für die Verbesserung der Flüchtlingslagersituation einsetzt, nahmen wir an Delegationsreisen in die Region teil und beteiligten uns an den Frauenaktivitäten vor Ort.

Und natürlich vergaßen wir nicht zu feiern. Der Freude unserer Körper und unserem Begehren haben wir begeistert mit Tanz und Musik Ausdruck verliehen. Wir organisierten Partys oder gingen gemeinsam auf andere Partys. In diesem Land, in dem der Alkohol verboten werden soll, haben wir uns betrunken. Über die Versuche, die Frauen zum Schweigen zu bringen, haben wir laut gelacht. Wir wurden schwanger, haben abgetrieben, nahmen unsere Kinder mit ins Forum und betreuten gemeinsam unsere Kinder. Manchmal haben wir gemeinsam geweint, wurden wütend auf die Situation oder auf uns gegenseitig. Dennoch haben wir es geschafft, zusammen und solidarisch zu bleiben. Wir sind dabei, Widerstand und Gleichberechtigung — von unseren Tränen zu unserem Gelächter, von unseren Gefühlen zu unserer Vernunft, von unserer Barmherzigkeit zu unserer Wut — Masche für Masche zusammenzuflechten.

All dies hat uns die Möglichkeit gegeben, über uns selbst nachzudenken und uns persönlich zu stärken. Diese Kraft tragen wir in die verschiedenen Plattformen. Mit dieser Kraft und der gemeinsam entwickelten Vernunft werden wir politisch aktiv. Wir haben in den Foren hierarchiearme Strukturen und gemeinsame Entscheidungsfindung kennengelernt. In diesem Prozess fühlen wir, wie die Solidarität und das Teilen unsere Schwesterlichkeit stärkt: Es gibt ein Leben außerhalb der Familie. Wir reißen die schwesterliche Verbundenheit aus der patriarchalischen Familie heraus und bauen eine andere soziale Einheit auf.

Dass die Widerstandsbewegung von Gezi schwächer geworden ist, konnte unseren Glauben nicht erschüttern. Unser Forum geht seit anderthalb Jahren ohne Unterbrechung weiter. Aufgrund des Wetters führen wir die Foren in geschlossenen Räumen weiter.

Wir sind uns bewusst, dass der Befreiungskampf der Frau langwierig ist. Wir Frauen wollen eine Stadt, auf deren Straßen wir zu Tages- und Nachtzeit frei herumlaufen können und nicht zu Hause eingesperrt bleiben. Weder wollen wir ein isoliertes Leben in den geschützten »gated communities« führen, noch wollen wir die sexuelle Belästigung auf der Straße hinnehmen. Wir kriegen in dieser Stadt, die durch Gentrifizierung zu einem Profitraum verkommt, keine Luft mehr. Wir fordern eine Stadt, die ökologisch ist, an deren Gestaltung wir uns beteiligen können, in der wir als Frauen nicht diskriminiert werden und unabhängig leben können. Darum bleiben wir am Tag und in der Nacht beharrlich auf den Straßen und in den Parks.

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Das Frauenforum Yoğurtçu trifft sich jeden Mittwoch um 19:30 – 21:30 in Kadıköy. Für weitere Infos: https://twitter.com/yogurtcukadin
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[1] Bei dem Grubenunglück in Soma im Mai 2014 starben aufgrund mangelnder Sicherheitsvorkehrungen mindestens 300 Bergleute. Bei den anschließenden Protesten gegen die AKP, die mit den Minenbetreibern verbandelt und für die laxen behördlichen Kontrollen der Minen verantwortlich ist, wurden der Ministerpräsident Tayyip Erdoğan und einer seiner Berater handgreiflich gegen die Hinterbliebenen der Bergleute.
[2] Als der Gezi-Park im Juni 2013 bereits geräumt und die Gezi-Bewegung sich in einem Prozess der Sammlung befand, wurde bei Protesten gegen den Bau einer Garnison in Lice bei Diyarbakır ein kurdischer Jugendlicher von der Gendarmerie erschossen. Daraufhin fand im Istanbuler Stadtteil Kadıköy eine spontane Solidaritätsdemonstration mit der kurdischen Bevölkerung statt, an der sich Tausende beteiligten und Parolen auf kurdisch riefen. Da Kadıköy als eine der Hochburgen des türkischen Nationalismus gilt, stellte eine derartige Solidarisierung mit der kurdischen Bevölkerung gegen die türkische Armee etwas vollkommen Unerwartetes dar. Dem erschossenen Jugendlichen wird seitdem zusammen mit den Toten des Polizeiterrors während des Aufstands gedacht.