Donnerstag, 29. Mai 2014

Ilker Ataç: "Ökonomische und politische Krisen in der Türkei. Die Neuformierung des peripheren Neoliberalismus", Westfälisches Dampfboot: 2013

Rezension von Axel Gehring

Die türkische Juni-Revolte von 2013 sowie der andauernde Machtkampf innerhalb des politischen Islam haben hierzulande das Interesse an den Entwicklungen in der Türkei belebt. Das Angebot an differenziert-kritischer Literatur in deutscher Sprache ist derweil begrenzt, und nicht wenige WissenschaftlerInnen und JournalistInnen haben sich in den letzten Jahren durch eine unkritische Nähe zur Regierung oder eine undifferenzierte Lobhuldigung des nunmehr kollabierten „türkischen Wirtschaftswunders“ als AnalytikerInnen diskreditiert. Gezi bildete in diesem Kontext ein Ereignis, das half, auch hierzulande oppositionelle Deutungen aus der Türkei bekannt zu machen. Die gilt freilich vor allem für politisch-identitäre Fragen. Der kritische Diskurs zur politischen Ökonomie in der Türkei ist in der Bundesrepublik weitgehend unbekannt, auch unter Wissensschaffenden und politisch Aktiven.

Ilker Atac verspricht mit dem vorliegenden Buch, das eine überarbeitete Fassung seiner Dissertation darstellt, "die unterschiedlichen Phasen des Neoliberalismus fest[zu]stellen und dessen Folgen für die Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie [zu] analysieren" (181). Den türkischen Neoliberalismus, der 1980 mittels eines orthodoxen IWF-Strukturanpassungsprogramms eingeführt worden war, gliedert er in drei Phasen:
Am Anfang stand demnach der Versuch ein liberales, exportorientiertes Entwicklungsmodell (43) zu etablieren. Nicht zuletzt eine Senkung der Löhne aktivierte anfangs bestehende Produktionskapazitäten für den Export, führte aber nicht zum Ausbau neuer Kapazitäten. Das Modell geriet in den späten 1980er Jahren in die Krise, nachdem graduelle politische Liberalisierungen ein Wiedererstarken der Gewerkschaftsbewegung ermöglichten. Die Öffnung des türkischen Finanzmarktes ab 1989 brachte einen neuen Wachstumsimpuls: Konsum und Importe konnten durch eine gesteigerte Kreditaufnahme ausgeweitet werden. Vor allem spielten die wachsenden Fiskaldefizite des Staates und das hohe Zinsniveau eine wichtige Rolle für den Akkumulationsprozess, der sich vor diesem Hintergrund immer stärker in den Bankensektor verlagerte. Türkische Banken nahmen dabei günstig Kredite auf den internationalen Kapitalmärkten auf  und investierten sie in hochverzinsliche Anleihen des türkischen Staates, dies geschah auf Kosten der Finanzierung des Produktionssektors. Dieses „staatszentrierte finanzielle Akkumulationsregime“ war nicht nur auf Grund seiner internen Verfassung instabil und reagierte darüber hinaus empfindlich auf die  Schwankungen der internationalen Kapitalmärkte. So führten die häufigen Krisen der neunziger Jahre erneut zu Einbußen bei den Reallöhnen. Die große Krise des Jahres 2001 bildete nach Atac den Beginn der Reformulierung des neoliberalen Paradigmas nach dem Post-Washington-Konsensus, der in Türkei in Form des Güçlü Ekonmiye Geçiş Programı (GEGP, Programm zum Übergang in eine starke Ökonomie) implementiert wurde: Der türkische Staat verfolgte in diesem Rahmen  eine von neuen bzw. gestärkten unabhängigen Regulierungsagenturen überwachte Austeritätspolitik. An die Stelle staatszentrierter finanzieller Akkumulation trat nunmehr ein kreditbasierter Finanzialisierungsprozess, der wesentlich auf Steigerungen von Privatkonsum und -verschuldung sowie einer vertieften Integration in die internationalen Geldmärkte basierte, während das Problem der geringen Investitionen in die Industrie bestehen blieb. Ein vergleichsweise stabiles globalökonomisches Umfeld und das Vertrauen der internationalen InvestorInnen in die neue Stabilität der Türkei führten zu hohen Zuflüssen ausländischen Kapitals, das dazu beitrug, die parallel zum ökonomischen Wachstum steigenden Leistungsbilanzdefizite zu finanzieren. Dies ermöglichte gerade auch den Mittelschichten einen auf Kredit basierenden Konsumschub und generierte nicht zuletzt gesellschaftliche Zustimmung für die seit Ende 2002 regierende AKP. Letztere formulierte keine eigene Wirtschaftspolitik, sondern betrieb bis zum Ende des Analysezeitraums (2007) im Wesentlichen die Umsetzung des GEGP.

Zentrale Dynamiken des türkischen Neoliberalismus seit 1980 stellt Ataç durch Aufarbeitung der einschlägigen kritisch-politökonomischen Literatur aus der Türkei gut verständlich dar; dies gilt insbesondere für den ebenso komplexen wie engen Zusammenhang zwischen Fiskalpolitik, Zinspolitik und der Konstitution von Akkumulationsregimen. So wird klar, warum die führenden Kapitalgruppen und Banken in der Türkei seit den neunziger Jahren selbst auf die Implementierung des Post-Washington-Konsensus gedrängt hatten, die ab 2001 schließlich in Form des GEGP erfolgte. Ataç bezeichnet dies als „Interiorisierung weltumspannender Kräfteverhältnisse“.

Allerdings verspricht Ataç mehr, wenn er eingangs kritisiert, dass „in regulationstheoretischen Analysen peripherer Gesellschaften (...) die Außenwirtschaftsbeziehungen im Handel- und Geldbereich im Mittelpunkt“ (14) stehen und „Fragen nach der Transformation von Staatlichkeit, nach politischen Auseinandersetzungen sowie nach der Verbindung von Kräfteverhältnissen und gesellschaftlichen Projekten“ eine „Lücke in der regulationstheoretischen Forschung bilden“ (15). Eben dies hätte eine systematischere staats- und hegemonietheoretische Erweiterung (seines an sich überzeugend entwickelten) regulationstheoretischen Ansatzes sowie eine systematische Analyse gesellschaftlicher Konflikte jenseits von Fragen der unmittelbar makroökonomischen Regulation erfordert. So untersucht er zwar die Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie mit einem klaren Fokus auf die Schaffung neuer, direkt dem Ministerpräsidenten unterstellter Apparate, die in den in der 1980er Jahren den Neoliberalisierungsprozess forcierten, sowie die Etablierung unabhängiger, „depolitisierter“ Regulierungsagenturen, die diesen Prozess in den 2000er Jahren konsolidierten. Doch leider verschränkt Ataç diese Prozesse nicht konsequent genug mit der Entstehung, Bedeutung und Wirkgeschichte gesellschaftlicher Projekte. Es findet sich zwar ein kurzer Exkurs zum „Özalismus“, dem liberal-konservativen Populismus der achtziger Jahre, wer aber etwas über die Reformulierung des politischen Islam im Kontext des Neoliberalisierungsprozesses sucht, die immerhin eine Voraussetzung dafür war, dass sich auch die islamistische AKP aktiv auf das GEGP verpflichten konnte, wird im vorliegenden Buch nicht fündig.

Sein Buch bleibt damit im Kern eine regulationstheoretische Analyse der politischen Ökonomie der Türkei bis 2007, die systematisch auf Prozesse Fiskalpolitik, Staatsfinanzierung, Zinspolitik fokussiert ist und deren Implikationen für die Entwicklung des produzierenden Sektors sowie des Handels erläutert. Das Versprechen, die Umstrukturierung des Verhältnisses von Staat und Ökonomie zu analysieren, löst es indes nicht ein. Ein solches Versprechen hätte der Autor allerdings auch nicht zwingend geben müssen, denn in Deutschland herrscht ohnehin eine weitgehende Unkenntnis der kritisch-politökonomischen Debatten in der Türkei und folglich eine große Lücke für schlüssige regulationstheoretische Beiträge. Festzuhalten bleibt insofern: Das vermeintliche türkische Wirtschaftswunder hat auch innerhalb einer kritischen deutschen Öffentlichkeit zu lange Bewunderung erfahren – Ataçs Studie trägt dazu bei, dieses Wunder zu entzaubern.