Donnerstag, 19. Dezember 2013

Bauwirtschaft, Islamismus und die türkische Bourgeoisie

Von Ismail Karatepe


In der neoliberalen Ära wurde die Türkei zum Schauplatz des Entstehens einer neuen Bourgeoisie, die die materielle Basis der AKP bildet. Die Bauindustrie ist ein zentraler Pfeiler für die Akkumulationsstrategien dieser Bourgeoisie. Unterstützt wird sie durch eine stetige Erweiterung von Maßnahmen, welche die direkte Einmischung der Zentralregierung in die Bauindustrie ermöglichen.

Um die zentrale Stellung der Bauindustrie für die neueren Entwicklungen in der Türkei zu begreifen, sollten vier zusammenhängende Aspekte in Betracht gezogen werden. Erstens die globale Tendenz zur neoliberalen Umgestaltung von Raum; zweitens der seit zehn Jahren anhaltende Bauboom in der Türkei; drittens die Rolle der seit 2002 regierenden islamisch-konservativen AKP; und viertens das Engagement der türkischen Bourgeoisie (Fraktionen der Bourgeoisie) in der Bauindustrie. In dieser kurzen Übersicht werde ich den ersten Aspekt, also die globale Tendenz zur neoliberalen Umgestaltung von Raum und Finanzialisierung des Immobiliensektors, auslassen und die Betrachtung ganz auf die Türkei konzentrieren[1].

Bauboom in der Türkei
Es ist weithin akzeptiert, dass in Entwicklungsländern eine positive Beziehung zwischen den Wachstumsraten der Bauindustrie und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) besteht. In der Türkei trägt die Bauindustrie sowohl direkt als auch indirekt zum Wirtschaftswachstum bei. Der indirekte Beitrag wird über Verbindungen zu anderen Sektoren wie dem Transportwesen, der Herstellung von Zement und Keramik und dem Abbau von Erzen geleistet. Aus Tabelle 1 lässt sich eine Korrelation zwischen der Entwicklung des BIP und der Bauindustrie ablesen. Die Bauindustrie hält einen Anteil von nicht weniger als 5% am BIP. Die Daten zeigen auch auf, dass der Bauboom durch die globale Krise nur kurzfristig unterbrochen wurde.
Rolle der AKP-Regierungen in der Bauindustrie
Der Immobiliensektor gilt weithin als die treibende Kraft des Baubooms. Die AKP- Regierungen stimulieren diesen Boom, indem sie die direkte Beteiligung staatlicher Organisationen ausbauen und private Unternehmen ermutigen, urbane Restrukturierungsprojekte im großen Stil zu entwickeln. Unter der Ägide der AKP wurden mehrere Reformen zur Förderung von Bauaktivitäten durchgeführt. Der überwiegende Teil dieser Reformen besteht in der Deregulierung von Vorgaben zur Stadtplanung und -entwicklung, die als bloßer bürokratischer Überhang betrachtet werden. Noch auffallender ist, dass direkte Eingriffe der Regierung in die Bauindustrie drastisch ausgeweitet wurden. Dem staatlichen Agenten TOKİ (Behörde zur Verwaltung des Siedlungsbaus) kommt in diesem Zusammenhang eine herausgehobene Stellung zu. Ursprünglich war die 1984 gegründete Behörde für den sozialen Wohnungsbau zuständig. Zwischen 1984 und 2002 hielt TOKİ einen Anteil von 0,6% Prozent am Wohnungsbau. Im Jahr 2004 stieg dieser Anteil steil auf 24,7% an. Seit der Regierungszeit der AKP hat TOKİ mehr als 500.000 Wohneinheiten im Wert von 35 Mrd. $ gebaut.
Einige von der AKP verabschiedete Gesetze zum Ausbau der Befugnisse von TOKİ ermöglichen der Regierung effizientere Eingriffe in die Bauindustrie. Daneben wurde TOKİ zu einem gewichtigen Finanzakteur erhoben. Zunächst wurde 2002 der führende Immobilienfonds (Emlak GYO A.Ş.), ebenfalls ein öffentliches Unternehmen, in TOKİ eingegliedert. Dies ermöglichte die Kanalisierung von Finanzkapital in die Bauindustrie und vice versa. Im Rahmen des 2007 erlassenen Hypothekengesetzes wurde TOKİ dann selbst zur Ausführung finanzieller Operationen autorisiert, darunter die Ausgabe von Wertpapieren.
Die unter der AKP durchgeführte Re-Positionierung der Behörde verleiht dieser einige Privilegien gegenüber anderen Akteuren des Bausektors. Sozialer Wohnungsbau ist zwar der offizielle Zweck, für den die Behörde geschaffen wurde. Mit ihm wird ihre privilegierte Position gerechtfertigt. Dieser Rechtfertigung widerspricht allerdings, dass TOKİ in den am wenigsten entwickelten Regionen der Türkei kaum investiert. Noch auffallender ist, dass die meisten von TOKİ gebauten Häuser nicht etwa für die unteren Einkommensgruppen konzipiert wurden, wie es ihrem offiziellen Auftrag entspräche, sondern für die mittleren und oberen Gruppen.
Unter der AKP entwickelte sich TOKİ zu einem herausragenden Akteur im gesamten Bausektor. Nach Angaben der Behörde entsprechen die bis September 2012 gebauten Wohneinheiten (mehr als 500.000) 22 neuen Städten mit jeweils 100.000 Einwohnern. Zum Vergleich: zwischen 1984 und 2002, dem Jahr der Regierungsübernahme durch die AKP, wurden gerade mal 43.145 Wohneinheiten gebaut, weniger als ein Zehntel also. TOKİ ist zu einem gigantischen öffentlichen Unternehmen geworden – weit über den Sozialwohnungsbau hinaus. Diese Tatsache wird sowohl durch eine große Anzahl von ihr errichteter, nicht dem Wohnzweck dienender Gebäude wie Moscheen und Krankenhäuser, als auch durch die erweiterte Autorisierung für Finanzgeschäfte und die direkte Beteiligung an Gentrifizierungsprojekten unterstrichen.
Bauindustrie und Islamismus
Die in den großen Städten auch unter der Leitung von TOKİ errichteten Betonwüsten erscheinen wie eine qualitativ miese Imitation Europas der Nachkriegszeit. Durch die Lektüre mancher islamistischer Schriftsteller gewinnt man den Eindruck, ein solcher Baustil, der den Aufbau der Städte auf „moderne“ Weise transformiert, müsste islamistischer Politik widersprechen. Tatsächlich haben einige islamistische Intellektuelle kritisiert, dass die Errichtung von Betonblöcken eine massive Zerstörung der Umwelt, traditioneller Nachbarschaftsbeziehungen sowie von kulturellem und familiärem Zusammenhalt nach sich ziehe. Die Folge dieser Bautätigkeit sei eine Zerstörung von Werten, auf die der Islam gründe. Kurzum, diese Art zu bauen widerspricht den einstmaligen Empfehlungen prominenter islamisch-konservativer Architekten und Städteplaner prinzipiell. Sie entspricht vielmehr den Vorstellungen derjenigen, die den Hochhausbau als Bedingung für zeitgemäße Zivilisation, als unbedingtes Modernisierungsziel erachten. Gerade gegen diese Logik haben einige Islamisten lange Zeit argumentiert.
Allerdings sind diese Intellektuellen weder eine Referenz für die AKP noch für die politische Tradition, an die sie anschließt. Vielmehr befindet sich die engagierte Betätigung der AKP im hochhinausschießenden Bausektor in Übereinstimmung mit ihrer politischen Tradition. Im Gegensatz zu manchen islamistischen Intellektuellen hat diese Tradition, in der die AKP und ihre Vorläuferparteien stehen, niemals ernsthaft das über die gesamte Republikära hegemoniale Modernisierungsparadigma infrage gestellt. Ganz im Gegenteil: Die Rechtfertigung der atemberaubend schnellen, “modernisierenden” Umgestaltung der Städte bildet einen Hauptstrang des von islamistischen Politikern, darunter auch Tayyip Erdoğan, bemühten Diskurses.
Die türkische Bourgeoisie
In der neoliberalen Ära wurde die Türkei zum Schauplatz des Entstehens einer neuen Bourgeoisie, weithin bekannt als Anatolische Bourgeoisie, Grünes oder Islamisches Kapital oder Anatolische Tiger. Die Bezeichnung “anatolisch” bezieht sich auf einen bestimmten Raum, dem Städte wie Konya, Kayseri und Denizli angehören, die als traditionelle Hochburgen islamistischer Politik gelten. Ein gewichtiger Anteil der zum Anatolischen Kapital hinzugezählten Unternehmen steht direkt oder indirekt in Verbindung mit islamistischen Sekten bzw. Netzwerken. Der 1990 gegründete Unternehmerverband MÜSİAD (Verband Unabhängiger Industrieller und Unternehmer) bildet ein Netzwerk zwischen diesen Unternehmen aus verschiedenen Städten und stellt den fürs Geschäft zuständigen Zweig islamistischer Politik dar. Die Wahlsiege der AKP – bei kommunalen wie nationalen Wahlen – und die Debatte über den Aufstieg der Anatolischen Bourgeoisie gehen Hand in Hand. So unterstützte diese Bourgeoisie mit finanziellen und diskursiven Mitteln die AKP und trug maßgeblich zu deren Wahlsiegen bei.
Die Anatolische Bourgeoisie hatte nach dem Putsch im Jahr 1980 dank finanzieller Freiheiten und laxer Regulation ein günstiges ökonomisches Umfeld vorgefunden. Die Bauindustrie ist seit jeher ein prominentes Feld, auf dem diese Bourgeoisie operiert. Der seit zehn Jahren anhaltende Bauboom hat dieser Gruppe verbesserte Bedingungen für die  Akkumulation von Kapital bereitgestellt. Ein substantieller Anteil der im Bausektor engagierten Firmen (bspw. İhlas, Çalık, Killer, Kombassan) hat einen anatolischen Ausgangspunkt und steht in Verbindung mit religiösen Netzwerken. Diese Firmen üben offensichtlich einen nennenswerten Einfluss auf die AKP aus. Sie werden bei der Vergabe von öffentlichen Bauaufträgen bevorzugt. So scheint ein Klientelnetzwerk rund um die beschleunigten Bautätigkeiten entstanden zu sein, dem auch Korruptionsvorwürfe nichts anhaben können.
Durch die Querverbindungen zu anderen Wirtschaftssektoren profitieren allerdings auch andere Fraktionen der türkischen Bourgeoisie vom Bauboom. Die Vergabe von Krediten und Verbindungen zum Hypothekenmarkt verleihen dem Bausektor eine treibende Dynamik in der Finanzialisierung. Finanzgeschäfte werden wiederum hauptsächlich von den großen Konglomeraten betrieben, die nicht zur Anatolischen Bourgeoisie gezählt werden. Daher wäre es irreführend zu behaupten, der Bauboom nutze lediglich der Kapitalfraktion, die der Regierung ideologisch nahesteht.
Der anhaltende Bauboom nimmt eine immer prominentere Rolle in der Politik ein. Die Ankündigung neuer Megaprojekte (bspw. Kanal Istanbul, eine parallel zum Bosporus verlaufende zweite Wasserstraße) wurde kurz vor den letzten Parlamentswahlen inszeniert.  Insbesondere in den großen Städten steht der Bauboom für die Verdrängung von Einwohnern aus ihren angestammten Stadtvierteln und für Umweltzerstörung großen Ausmaßes. Dennoch kommt dem Boom eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung von Hegemonie zu. Andererseits ist die nicht nur für die türkische Bourgeoisie bedeutsame Bauindustrie mit den jüngsten Protesten stärker in den Fokus oppositioneller Politik gerückt. So sind die Besetzung des Gezi-Parks und die darauffolgenden Demonstrationen eine neue Herausforderung der über den Bausektor stabilisierten Hegemonie.


[1] Eine ausführlichere Version dieses Artikels befindet sich hier: http://turkeyconference2013.worldeconomicsassociation.org/papers/islamists-state-and-bourgeoisie-the-construction-industry-in-turkey/