Montag, 27. April 2015

Der 24. April und die Eigentumsfrage

Von Utku Deniz Sirkeci

Was bei der Debatte um den 24. April zu kurz kommt, ist die Frage nach den Besitztümern. Dabei lautet eine der ersten Fragen, die einem von der türkisch-offiziellen Version der Geschehnisse aufgedrängt wird: Wenn die gefährlichen Ereignisse, die von den Armeniern ausgingen, sich hauptsächlich an den Grenzen des Reichs abspielten, warum wurde dann die Vertreibung aus den inneren Regionen betrieben? Ein Edikt vom 10. Juni 1915 gibt Aufschluss.


Nachdem ein ganzes Jahrhundert vergangen ist, gibt es erste Ansätze seitens der Republik Türkei, den Akt gegen die Armenier als „eine schlechte Sache“ zu benennen. Reichlich spät.

Und wie diese „Sache“ genau zu benennen ist, bleibt ein Problem. Der wichtigste Grund hierfür ist, dass mit der Benennung des Genozids die Frage nach dem enteigneten Land und die Forderung nach Entschädigungen aufkommen werden.

Ein Edikt vom 10. Juni 1915 gibt einen Aufschluss über die Dimension dieser Frage.


Auszug aus dem Edikt zum Umgang mit dem Hab und Gut, den Immobilien und Grundstücken der aufgrund des Kriegszustands und außerordentlicher politischer Zwänge umgesiedelten Armenier

Artikel 1:
f1. Die behördlichen Zuständigkeiten und Kompetenzen bei der Ausführung dieses Edikts zum Umgang mit dem Hab und Gut, den Immobilien und verlassenen Grundstücken sowie anderen Angelegenheiten der an andere Orte verbrachten Armenier wird im Besonderen gemäß der unten stehenden Artikel definiert.

Artikel 2:
f1. Nach der Räumung eines Ortes werden die den Deportierten gehörenden Gebäude und die in ihnen enthaltenen Gegenstände durch Beamte oder Sondergremien, die vom Leitungsgremium ernannt werden, versiegelt und unter Schutz gestellt.

Artikel 3:
f1. Nachdem die unter Schutz gestellten Gegenstände gemäß Gattung, Menge, geschätztem Wert, Namen des Besitzers im Detail katalogisiert wurden, werden sie unter besonderer Kenntlichmachung des Besitzers in geeignete Lagerstätten wie Kirchen, Schulen oder Herbergen transferiert, dort ein Lagerbuch angelegt, das Qualität und Menge der Gegenstände, ihre Besitzer, den Herkunfts- sowie den Lagerungsort festhält, und das Original des Lagerbuchs dem lokalen Gremium und eine beglaubigte Kopie dem Leitungsgremium für Verlassene Besitztümer übergeben.

Artikel 4:
f1. Bewegliche Gegenstände, deren Besitzer nicht bekannt sind, werden nach dem Dorf, aus dem sie stammen katalogisiert und unter Schutz gestellt.

Artikel 5:
f1. Verderbliche Gegenstände sowie Tiere werden durch eine vom Gremium ernannte Delegation in öffentlicher Versteigerung verkauft, der Erlös falls bekannt dem Besitzer übergeben und falls nicht bekannt der Finanzkasse des Dorfes anvertraut, aus dem die Gegenstände entstammen

f2. Gattung, Schätzwert, Herkunftsort, Käufer und Verkaufswert der versteigerten Gegenstände werden detailliert in einem eigenen Buch festgehalten, das Dokument wie vom Versteigerungskommitee festgelegt und beglaubigt als Katalog angefertigt, das Original dem lokalen Gremium und eine beglaubigte Kopie dem Leitungsgremium für Verlassene Besitztümer übergeben.

Artikel 6:
f1. Gegenstände in den Kirchen, Bilder und heilige Bücher werden in einem Heft erfasst, dem Protokoll hinzugefügt, darauf geachtet, dass sie an Ort und Stelle geschützt werden und später durch Verwalter an die Dorfbevölkerung der zugehörigen Kirche in ihrem Transferort verschickt.

Artikel 7: …

Artikel 8:
Falls sich auf den verlassenen Grundstücken Erzeugnisse oder angebaute Flächen befinden, werden diese durch eine vom Gremium ernannte Delegation öffentlich versteigert, der Erlös im Namen des Besitzers der Finanzkasse anvertraut und ein Protokoll erstellt, dessen Original dem lokalen Gremium und beglaubigte Kopie dem Leitungsgremium übergeben wird.

Artikel 9:
f1. Falls sich für die angebauten Flächen und vorhandenen Erzeugnisse keine Käufer finden, werden diese gegen eine Kaution und einen Vertrag Interessenten auf dem Wege der Halbe-Halbe-Teilung gegeben, der Erlös aus der Pacht oder dem Verkauf im Namen des Besitzers der Finanzkasse übergeben.

Artikel 10:…

Artikel 11:
f1. In die geräumten Dörfer werden Immigranten angesiedelt, vorhandene Häuser und Grundstücke an die Immigranten unter Beachtung des Bedarfs und der landwirtschaftlichen Kapazitäten der Familien mittels provisorischer Dokumente verteilt.

Artikel 12:
f1. Die angesiedelten Immigranten werden nach detaillierten und geordneten Kriterien registriert, per Haushalt der Name, Herkunftsort, Ankunftsdatum, Ankunftsort im Buch erfasst, die ihnen übergebenen Häuser und Grundstücke nach Art, Gattung, Wert und Ort extra erfasst, ihre Ansiedlung gewährt und ihnen ein Dokument ausgehändigt, das die ihnen übergebenen Gegenstände, die Immobilie und das Grundstück anzeigt.

Artikel 13:
f1. Für den Schutz der Gebäude und der angepflanzten Bäumen in den Dörfern sind die Immigranten verantwortlich, Schäden werden ohne Beachtung der für die Tat Verantwortlichen von allen Siedlern gemeinsam beglichen, während die Täter vom Dorf entfernt und ihre Rechte verlieren, die Immigranten zustehen.

Artikel 14:
f1. Nachdem die Ansiedlung der Immigranten geleistet wurde, werden in die übrig gebliebenen Dörfer Nomadenstämme aus der Umgebung angesiedelt, die nach gleichem Recht wie die Immigranten behandelt werden.

Artikel 15:
f1. In die geräumten Häuser in den Städten und Kleinstädten werden bevorzugt städtische oder kleinstädtische Immigranten angesiedelt und unter Beachtung ihrer vormaligen ökonomischen und finanziellen Situation sowie ihrer bautechnischen Fähigkeiten Grundstücke in ausreichender Größe übergeben.

Artikel 16:
f1. Einkunftsträchtige Gegenstände wie Geschäfte, Herbergen, Fabriken, Waschhäuser, Lagerhäuser sowie für die Ansiedlung der Immigranten nicht geeignete oder nach der Verteilung übrig gebliebene Gebäude werden wie in Artikel 18 angezeigt durch Verwaltungsgremien oder unter ihrer Aufsicht  durch Delegationen unter der Leitung lokaler Verwaltungsbeamter öffentlich versteigert.

Artikel 17:
f1. Die in den Städten und Kleinstädten angesiedelten Immigranten werden nach detaillierten und geordneten Kriterien registriert und ein Buch geführt, das die ihnen übergebenen Grundstücke nach Gattung, Menge und Wert anzeigt.

Artikel 18:
f1. Weinberge, Gärten, Zitrushaine, Olivenhaine und ähnliche unbewegliche Gegenstände in den Städten und Kleinstädten werden unter der Voraussetzung eines Schuldscheins und Anzeige einer Bürgschaft den für den Anbau qualifizierten Immigranten nach Bedarf verteilt, wem welche Art und Menge an Grundstücken und Gegenständen übergeben wurde in einem speziellen Buch erfasst und den Empfängern ein Dokument ausgehändigt, das den Grund der Übergabe anzeigt. 
f2. Die nicht an die Immigranten verteilten oder vergebenen Gegenstände werden gemäß Artikel 16 öffentlich versteigert.

Artikel 19 - 22: …

Artikel 23:
f1. Die Verwaltung der Gegenstände aus den geräumten Dörfern und Kleinstädten ist gemäß der Richtlinien dieses Edikts unmittelbar dem Leitungsgremium für Verlassene Besitztümer unterstellt.

Artikel 24:
f1. Die Verwaltungsgremien sind hinsichtlich der Verwaltung der Gegenstände an das Innenministerium und an die  Ausführung der von dort empfangenen Befehle gebunden und damit beauftragt, die sachbezogenen Ausführungen und Beschlüsse an die lokalen Gremien weiterzuleiten.

Artikel 25 – 34 regeln hauptsächlich die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und die Zusammensetzung des Leitungsgremiums für Verlassene Besitztümer.

10. Juni 1915



Beim Lesen des Edikts wird offenkundig, dass die Häuser, Parzellen, Geschäfte und Immobilien, kurz die Besitztümer der Armenier unter den Clans und Feudalherren aufgeteilt und an die muslimischen Kriegsflüchtlinge verteilt wurden.

Ein Teil derjenigen, die vertrieben wurden, hatte ursprünglich vor, zurückzukehren. Manche vertrauten ihre Schlüssel den Nachbarn an, andere vergruben ihre Habseligkeiten. Es sei daran erinnert, dass die Schatzsuche in der heutigen Türkei noch immer ein verbreitetes Phänomen ist.

So wurde 1915 nicht nur eine Kapitalakkumulation organisiert. Die Verteilung der Besitztümer sollte in den Kriegsjahren die Verbundenheit zum Reich stärken und den zahlreichen Kriegsflüchtlingen eine neue Lebensgrundlage ermöglichen. Auf diese Weise wurde ein erster Grundstein für das gelegt, was später „Nationalpakt“ genannt wurde und die „Unteilbarkeit des Staatsgebiets“ begründete.

Zwar wird die Angelegenheit als armenische Frage behandelt, von der „schlechten Sache“ waren jedoch auch die Assyrer und die Pontus-Griechen betroffen. Kurzum, die „Sache“ betrifft nicht nur die Armenier.

Das Thrakien-Pogrom 1934, 1942 die Vermögenssteuer, die Ereignisse des 6.-7. September 1955, all dies sind Aktionen, denen die gleiche Logik unterliegt.

In den 1990ern traf es die Jesiden und verbliebenen Assyrer, die aus ihren Dörfern weggehen mussten und deren Land und Häuser von den Dorfschützern beschlagnahmt wurden.

Dass der türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu die Vertreibung heute ein Menschheitsverbrechen nennt, indes die Republik Türkei „diese Sache“ noch immer nicht Völkermord nennen kann, liegt an der Entschädigungs- und Landfrage, die der Anerkennung auf dem Fuße folgen würde. Aus diesem Grund wird sich die Türkei auch weiterhin weigern, den Völkermord als historische Tatsache anzuerkennen.

Der türkische Vorschlag, das Thema den Historikern zu überlassen, ist dagegen lediglich ein Manöver, um außenpolitischen Spielraum zu gewinnen. Wichtiger ist, dass endlich mit der Leugnung im Inland aufgehört wird.

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Das Original dieses Artikels erschien bei gezite.org. Wir danken gezite.org und dem Autor für die freundliche Erlaubnis, eine Übersetzung auf unserem Blog veröffentlichen zu dürfen.

Anmerkung von Infobrief Türkei: Bei der Übersetzung des Edikts wurde zwar auf Genauigkeit geachtet, da es sich jedoch um eine Übersetzung der Übersetzung (vom Osmanischen ins Türkische ins Deutsche) und einen teilweise sehr verschachtelt formulierten Gesetzestext handelt, sind leichte Ungenauigkeiten nicht auszuschließen.